06.09.2020 - "Wir sind Familie!" - Predigt zu Markus 3,31-35 am 13. Sonntag nach Trinitatis (Pfr. Fischer)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
Konflikte sind Teil meines Lebens.

Ich erlebe immer wieder Situationen, die sich nicht einfach durch die Frage nach Gut und Böse oder richtig und falsch lösen lassen.

Das sind Konflikte von Verpflichtungen, die ich fühle – und die manchmal sich gegenseitig im Weg stehen.

Einen solchen elementaren Konflikt erlebt Jesus, als er zwischen Familie und Gemeinde steht.

Wir hören den Predigttext aus dem Markusevangelium im 3. Kapitel, daraus die Verse 31 bis 35:
Es kamen Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
Und das Volk saß um ihn.
Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und dein Schwestern draußen fragen nach dir.
Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter, und das sind meine Brüder!
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

 

Liebe Gemeinde!

Welch Provokation!

Was erzählen die Evangelien da?

Keine Heilige Familie, keine heilige Maria.

Stattdessen sind da seine Brüder und seine Mutter, die Jesus gerne aus dem Verkehr ziehen würden, zumindest etwas leiser stellen, weil er ihnen peinlich ist.

Ich lese uns dazu kurz den Auftakt zu unserer Geschichte aus den Versen 20 und 21 vor:
Und Jesus ging in ein Haus.
Und da kam abermals das Volk zusammen, sodass sie nicht einmal essen konnten.
Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn ergreifen; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen.

„Der spinnt“, sagt seine Familie über Jesus aus.

Sie verstehen nicht, was Jesus da tun muss.

Jesus muss sein Ding, muss Gottes Sache machen, auch gegen die Familie, gegen ihren ausdrücklichen Willen.

Viele Ausleger dieser Stelle wittern hier den Aufstand Jesu gegen traditionelle Familienbindungen – als wäre er der Protagonist für Scheidung und Patchwork.

Der Revolutionär Jesus, der die bürgerlichen Familienmodelle auf den Müll wirft.

Doch Vorsicht!

Auch wenn Jesus viele Traditionen hinterfragt und neu gewichtet, so war er kein Anti-Traditionalist, kein Revoluzzer – Reformer ja!

Denken wir an die Stellung der Frau, die damals kein öffentliches Rederecht hatte, deren soziale Stellung allein innerhalb der Familie begründet war – und zwar in totaler Abhängigkeit von ihrem Ehegatten.

Der durfte auch allein die Trennung vollziehen lassen.

In der berühmten Szene mit der Ehebrecherin in Johannes 8 zeigt Jesus die Doppelmoral der Männer auf, also: wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!

Jesus setzt die Rechtsnorm nicht außer Kraft.

Was die Frau getan hatte, war Sünde!

„Geh hin und sündige hinfort nicht mehr“, sagt zu ihr Jesus am Ende der Szene.

Der sündige Mensch, der bereut, bekommt das Recht auf Vergebung und auf einen Neubeginn zugesprochen.

Wir dürfen aus unseren Fehlern lernen – doch, das sei hier ausdrücklich gesagt, ist das nicht als Freibrief zu verstehen, um weiterhin munter Rechtsbruch zu begehen.

Jesus geht es um die rechte Verhältnismäßigkeit von Normen, als den Geboten Gottes, und dem Wirklichen Leben.

Und wer wüsste das von uns nicht: Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier oft weit auseinander.

Auch und gerade im Familienleben.

Das idealisierte Bild von der Familienidylle gab es nie wirklich – auch zu Jesu Zeiten nicht!

Familie war ein Verantwortungsmodell, ein Versorgungsmodell, bedeutet soziale Absicherung.

Diejenigen, die innerhalb eines Familienverbandes, einer Sippe, arbeiten konnten, versorgten diejenigen mit, die dazu nicht fähig waren.

Das war auch das, was Jesu Familie zurecht von ihm forderte: Solidarität mit den Seinen!

Und genau an diesem Punkt entflammt der Konflikt: Jesus muss sich entscheiden, zwischen seiner Familie und seinem göttlichen Auftrag.

Jesus ist der Messias, der Gesalbte, der Erlöser für alle Menschen, nicht nur für den engsten Familienkreis.

Er weitet den Blick: Alle, die auf ihn hören und ihm vertrauen, sind seine Familie.

Es geht Jesus dabei nicht um Abwertung der Familie!
Es geht ihm nicht darum, den Eltern oder Geschwistern etwas wegzunehmen – wie die Liebe und die Verantwortung.

Jesus zeigt ihnen vielmehr, dass es noch eine Verantwortung jenseits der Familie gibt.

Er erweitert den Horizont.

Es gibt ja die Träume von einem Leben, in dem ich alles miteinander vereinbaren kann, was mir wichtig ist.

Die Wirklichkeit ist leider anders.

Ich erlebe auch, dass sich Dinge, die wichtig sind, gegenseitig im Weg stehen.

Die konkurrieren miteinander!

Für mich ist das immer wieder die Frage, was im Moment wichtiger ist, Familie oder Beruf.

Wie gesagt: Jesus setzt die Zehn Gebote nicht außer Kraft; er gibt ihnen ein neues Verständnis.

Hier in Bezug auf das vierte Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren, damit es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden“.

Dabei ist für Jesus klar: Der Respekt muss bleiben, genauso wie die Verantwortung gerade gegenüber Kindern oder den bedürftigen Eltern.

Aber das Verhältnis zueinander muss auch andere Prioritäten ertragen.

Es ist wichtig, dass Familienbande geschützt bleiben, aber es gibt auch eine Verantwortung jenseits dieser Grenze.

Hier kommt uns als Christinnen und Christen eine wichtige Aufgabe zu!

Wir sind Teil des göttlichen Plans, der göttlichen Mission!

In Jesus Christus ist die Liebe Gottes unter uns erschienen.

Wir haben erkannt, dass Gott nicht jener ferne alte zornige Mann auf einer Wolke ist, der am liebsten straft.

Für uns wurde wichtig, dass Gott uns begegnen will – in unserem Alltag, in unseren Schwestern und Brüdern.

Gott ist uns mit Liebe begegnet und beruft uns in seinen Liebesdienst: Liebe deinen Nächsten!
Liebe deinen Mitmenschen, wie dich Gott liebt und wie Du dich selbst liebst.

Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Ich weiß: Das ist aufregend genug, dass Jesus uns immer neu auf die Menschen hinweist und verweist, mit denen wir ständig in meinem Alltag zu tun haben – und die auch nicht immer nur freundlich zu uns sind: Arbeitskollegen, Schulkameraden, Nachbarn, der Fremde auf der Straße, der die Maske nicht tragen und den Mindestabstand nicht einhalten will, und und und …;

Und Jesus macht uns klar: Unser Mitmensch ist unsere Schwester, unser Bruder – oder kann es noch werden!

Jesus bricht hier die engen Grenzen der idealisierten kleinbürgerlichen Vorstellung auf, in der die Familie das non plus Ultra ist, die Insel der alleinmachenden Glückseligkeit –
letztlich aber nichts anderes ist als ein Trugbild, eine gefährliche Illusion – weil sie alle Familienangehörige maßlos überfordert.

Jesus weitet unser Familienbild:

Da existieren dann plötzlich zwei Ideen von Familie nebeneinander – die biologische Familie und die Menschheitsfamilie von Schwestern und Brüdern.

Beide können nebeneinander existieren, aber es gibt Momente, da geraten sie auch in Konkurrenz.

Jesus fällt hier eine Entscheidung, auch weil er weiß, dass Mutter und Geschwister gut versorgt sind.

Wäre es anders, wäre vielleicht auch seine Reaktion anders gewesen.

Jesus fällt diese Entscheidung, weil es viele Menschen gibt, die zu ihm ins Haus drängen;
fast zu viele, dass sie nicht einmal essen konnten.

Sie sind auf der Suche nach Sinn und Erlösung.

Das Volk sitzt hier um Jesus herum, sie hören ihm zu und er redet mit ihnen.

Sie gehören jetzt ganz eng zu ihm, weil sie es sind, die seine Worte aufsaugen, seine Gedanken zu ihren machen.

Sie sind in diesem Moment die Menschen, die ihm am Nächsten stehen, wortwörtlich, aber auch in Gedanken.

Wenn wir das auf uns heute übertragen, heißt das:

Wir dürfen die Nächsten Jesu sein, wenn wir uns um ihn versammeln, wenn wir seinem Wort zuhören, wenn wir ernsthaft versuchen, nach den Regeln der christlichen Familie zu leben.

Wir dürfen leben als seine Familie!

Ja, wir sind die wahre heilige Familie, die Gemeinde Gottes, die Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi.

Aus dem Hören auf Jesus Christus wächst neue Kraft, liebe Gemeinde.

Seine leibliche Familie dagegen steht vor der Tür – eigentlich tragisch.

Sie wollen ihn nicht sehen, nicht hören, nur rausholen wollen sie ihn, weil er ‚von Sinnen ist, weil er sie blamieren könnte, weil sich das wohl alles nicht gehört für einen Sohn ehrbarer Leute, in der Weltgeschichte rumzuziehen und kluge Sprüche von sich zu geben.

Und dafür erfahren sie eine schroffe Abweisung.
Nicht weil sie Familienbande hochhalten oder weil sie doch Mutter und Brüder sind, sondern weil sie nicht wirklich bereit sind, sich auf ihn einzulassen: Jesus, in dem Gott die Menschheit erlösen will;

weil sie stattdessen demonstrieren, dass für sie Familie Einbahnstraße ist.

Deshalb weist Jesus sie zurecht.

Das ändert sich noch, Gott sei Dank!

Seine Familie lernt dazu.

Seine Mutter Maria wird als eine von ganz wenigen unter dem Kreuz stehen – und verstehen; seine Brüder gehören zu den Uraposteln seiner Kirche.

Liebe Gemeinde,
in Jesus ist Gott Mensch geworden; er bringt uns Gott auf unbegreifliche Weise nahe; ich versuch’s trotzdem:

Wir dürfen uns Schwestern und Brüder von Jesus nennen.

Wir sind seine Familie.

Das wertet uns auf, Andere aber nicht ab.

Das soll uns Mut machen, selber von Jesus zu reden, selber neue Schwestern und Brüder zu suchen, die sich von Jesus Christus begeistern lassen.

Das soll uns weiter Mut machen, Gemeinde zu leben und Gottes Wort zu verkünden.

Von Jesus her bekommt unser Leben die Liebe für unsere Nächsten – unsere Familien und unsere Geschwister in Christo. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.