13.09.2020 - "Fragmente" - Predigt zu Lukas 19,1-10 am 14. Sonntag nach Trinitatis (Pfr. Koller)

 14.n.Tr. – 2020 – Lk.19.1-10

„Fragmente“

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. (Ps 103, 2)

„Die Technik hat alle Entfernungen überwunden, aber keine Nähe geschaffen“. Das schrieb schon vor Jahren der Philosoph Martin Heidegger. In Zeiten von Corona ist das besonders schmerzhaft deutlich geworden. Covid 19 schafft Distanz, trennt, reißt Lücken, vereinsamt. Vor Begegnung wird gewarnt, Kontakt ist schädlich, Miteinander macht Angst.

Ja, erfreulicherweise haben wir alle Rundfunk und Fernsehen, haben Telefon oder Handy, so dass Anteilnehmen am Leben der anderen zumindest digital möglich ist. Für einige Zeit boomte ja auch in unseren Kirchen die digitale, virtuelle Begegnung. Aber all dies konnte und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „echte“ Nähe den Menschen fehlt.

Während des „Lockdowns“ im März/April 2020 führte das bei uns schon früh zu heftigen Diskussionen über „Öffnungen“.

Menschlich durchaus verständlich: Menschen wollen nicht abseitsstehen, wollen nicht abgesondert werden. Menschen wollen zusammen- oder wenigstens dazugehören.

Aber was menschlich nachvollziehbar ist, muss deshalb noch lange nicht als klug angesehen werden! Covid 19 ist immer noch ein tödlicher Virus! Dazu genügt ein Blick in die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Solange das so ist, gilt für Christen weiterhin, alles zu tun, um die Verbreitung dieses Virus zu stoppen.

„Die Technik hat alle Entfernungen überwunden, aber keine Nähe geschaffen“.

Covid 19 hat diese Situation verschärft. Und verweist gleichzeitig auf ein dahinterstehendes, tiefergehendes Dilemma, konkret: Die Fragilität, die Zerbrechlichkeit allen menschlichen Lebens, sowohl des Einzelnen wie auch einer Gesellschaft. Und einhergehend mit der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens werden wir auch an das Bruchstückhafte unserer persönlichen Existenz erinnert.

Mag sein, dass so mancher die Bruchstückhaftigkeit seines ganzen Lebens als schwer erträglich empfindet. So manche Wut ließe sich vielleicht auch damit erklären, entschuldigt aber keinesfalls die auch hierzulande zunehmende Aggressivität!

Henning Luther, 1991 in Marburg verstorbener Professor für Praktische Theologie, schrieb in seinem Buch „Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit“ unter Bezug auf Dietrich Bonhoeffer:

„Ein Leben, das sich im Beruflichen und Persönlichen voll entfalten kann und so zu einem ausgeglichenen und erfüllten Ganzen wird …, gehört wohl nicht mehr zu den Ansprüchen, die unsere Generation stellen darf. Dar­in liegt wohl der größte Verzicht, der uns Jüngeren … auferlegt ist und abge­nötigt wird. Das Unvollendete, Fragmentarische unseres Le­bens empfinden wir darum wohl besonders stark. Aber ge­rade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen.“

Der letzte Satz macht hellhörig! Woher nimmt er das, dass „ge­rade das Fragment auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen kann?

Er zitiert D. Bonhoeffer: „Unsere geistige Existenz … bleibt ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die … bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann“. (Widerstand und Ergebung, S. 246)


Die Erfahrung der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens, des Bruchstückhaften unserer persönlichen Existenz, der damit verbundenen Vereinzelung und Nicht-Zugehörigkeit ist ja eine zutiefst menschliche Erfahrung! Sie durchzieht die Heilige Schrift vom Anfang bis zum Ende wie ein roter Faden: von der Paradiesgeschichte (1. Mose 3), über die Erfahrung des Exils (Psalm 137) und den Abschiedsreden Jesu (Joh. 13) bis hin zur Überwindung der Spaltung am Ende der Zeit (Offb. 21).

Paulus gebraucht im 1. Korintherbrief anstatt „Fragment“ den Ausdruck „Stückwerk“. Stückwerk ist unser Wissen, Stückwerk ist und bleibt unser ganzes Leben.

Diese Sicht des Paulus hat aber auch etwas Ermutigendes, ja, Befreiendes! Unser Leben ist Stückwerk und wird es bis zuletzt bleiben, ja! Keiner muss deshalb verzweifelt versuchen, aus den Brüchen seines Lebens ein Ganzes zu machen! Keiner muss vollkommen sein, jeder und jede darf mit den eigenen Scherben, darf auch mit den eigenen Schwächen und Halbheiten leben. „Sei Mensch und bleibe menschlich unter Menschen!“ – So verstehe ich Paulus. Und so liegt es in der Ziellinie unseres Herrn Jesu Christi! Und nur so kann auch bruchstückhaftes Leben gelingen, nämlich dann, wenn unser Menschsein durchscheinend wird für die Ganzheit, an die wir hier glauben und die wir dereinst, so unsere Hoffnung, einmal schauen.

Deshalb feiern Christen – ein jeder und jede eine fragmentarische Existenz! - gemeinsam Gottesdienst, um sich dieser „Ganzheit“ zu vergewissern! Um immer wieder zu hören und zu spüren: Ich gehöre dazu zur Gemeinschaft der Christen, der heiligen, weltumspannenden, auf den Aposteln begründeten Kirche Jesu Christi. Deshalb erinnern wir uns unserer Taufe und was sie uns zusagt: das Einswerden mit der Gemeinschaft der Kinder Gottes, das Einswerden mit Christus und die Entdeckung: Ich bin Teil eines Ganzen.

Sie werden sich bis jetzt vielleicht gefragt haben, was denn eigentlich der heutige Predigttext ist. Der ist selbst ein Fragment, eine Jesusgeschichte, die uns nur der Evangelist Lukas überliefert hat. Über die Hauptperson wird weder vor noch nach der Geschichte je wieder ein Wort verloren. Wir erfahren nicht, wie sie vor und wie sie nach der Begegnung mit Jesus weitergelebt hat. Sowohl die Hauptperson als auch die Geschichte bleiben Fragment im Neuen Testament – und sind zugleich Erinnerung und Frohbotschaft für jeden und jede, die ihr Leben als bruchstückhaft, als Stückwerk erleben. Lukas erzählt die Geschichte des Oberzöllners Zachäus.

Eine Geschichte übrigens, die Pfarrer Johannes Taig auf jeder Konfirmandenfreizeit den Kindern ausgeschmückt und spannend erzählt hat. Wir waren uns immer darin einig, dass Jugendliche in der Pubertät intuitiv sofort verstehen, was es heißt, nicht gemocht zu werden, ausgegrenzt zu werden, nicht dazu zu gehören, sondern vereinzelt zu werden und einsam zu sein. So leuchteten am Ende der Geschichte die Worte Jesu, waren Evangelium, frohmachende Botschaft : „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

Ich werde Ihnen die Geschichte nicht nacherzählen, sondern dem Wortlaut des Evangelisten Lukas folgen. Sollten Sie beim Zuhören etwas von der fragmentarischen Existenz des Zachäus bei sich selbst entdecken, so ist das von unserem Herrn Jesus Christus durchaus gewollt!

Lukas 19. 1-10

1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Herr, segne Reden und Hören, gib den rechten Glauben, gib das rechte Tun!

 

Kollektengebet

Weit entfernt bist du uns manchmal, Herr. Unüberbrückbar erscheint der Abstand zu dir. Unser Wollen und Denken gehen an dir vorbei. Darum bitten wir dich: Komm du zu uns. Geh du hinein in unser Leben, unser Arbeiten und Träumen. Schenk uns so immer wieder neu die Erfahrung, wer du bist und wer wir sind.

Mach uns in deinem Geist zu deinen Kindern, damit wir in freiem Entschluss dich als Vater anerkennen. Wir bitten im Auftrag dessen, der uns eingeladen hat, in dir nicht nur den Herrn, sondern auch den Vater zu sehen.

 

Kirchengebet

Es ist so schwer, in deinem Geist zu leben, lieber Vater. Immer wieder kommen wir uns selbst in die Quere.

Du lädst uns ein, dankbar zu sein, bewusst zu leben. Uns aber er­scheinen Wohlstand und Gesundheit als das Selbstverständliche - das, was uns zusteht. Hilf du uns dazu, dass wir nicht erst in Zeiten der Armut und Krankheit über unser Leben nachdenken, sondern es immer in gelebter Dankbarkeit von dir empfangen.

Du lädst uns ein, zu vergeben und neue Anfänge zu ermöglichen. Wir aber nageln einander auf unsere Vergangenheit fest, wir lassen oft sinnvolle Veränderungen nicht zu. Mach du uns doch klar, dass wir einander das Leben nehmen, wenn wir uns auf unseren Vorurteilen kreuzigen.

Du bietest uns immer wieder deine liebende Hilfe an. Wir aber wol­len uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Unser Stolz lässt es oft nicht zu, einzusehen, dass wir einem anderen unser Leben verdanken. Schenk du uns mehr Offenheit und Vertrauen - dir und anderen Menschen gegenüber.

Du versprichst uns deinen Geist, der in die Freiheit führt. Wir aber zögern, diesen Geist in unser Leben zu lassen, obwohl wir immer wieder erfahren, dass unsere eigenen Anstrengungen uns stets in Unfreiheit bringen.

Wir bitten dich um Menschen, deren Leben uns ermutigt, es wieder mit dir und deinem Wort zu versuchen. Und wir bitten um deinen Geist, dass wir für andere zu Zeichen werden, die auf Freiheit und Hoffnung hinweisen.

Du hast uns ja ein unüberbietbares Zeichen für Glaube, Liebe und Hoffnung gesetzt in deinem Sohn, der uns lehrte zu bitten: Vater unser ...