29.11.2020 - "Lieber früh als spät" - Predigt am 1. Advent zu Römer 13,8-14 (Pfr. Fischer)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Wir hören das Predigtwort aus dem Römerbrief des Paulus im 13. Kapitel, daraus die Verse 8-14:
Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt;
denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.
Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.
So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.
So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung,
nicht in Hader und Neid; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.

 

Liebe Gemeinde,
wie spät ist es?

Kennt Ihr das auch?

Man wacht auf, mitten in der Nacht, und denkt: Hilfe, wo bin ich?

Nachdem man eine Weile die Dunkelheit des Raumes mit Blicken zu durchdringen versucht hat, nachdem man - immer noch orientierungslos - die Umgebung ertastet und befühlt und dann erleichtert festgestellt hat, ja Gott sei Dank, es ist wohl mein Bett, ich bin nicht irgendwo im Verlies, sondern Zuhause.

Da fragt man dann als Nächstes unwillkürlich:

Wie spät ist es?

Wie spät!

Nicht etwa: wie früh, obwohl es vielleicht bereits fünf Uhr morgens ist.

Dieses Wörtchen „spät“ verrät eine Menge.

Über unser Zeitgefühl.

Über unseren menschlichen Pessimismus.

Wir leben die meiste Zeit unseres Lebens so, als wäre es ziemlich spät.

Als bliebe nicht mehr viel Zeit.

Wer dreißig ist, klagt: auweh, ich bin schon dreißig!

Was soll daraus noch werden?

Und wer sechzig ist - wäre vielleicht gerne noch mal dreißig: „was war ich da jung“.

Die meisten von uns leben so, als wäre es schon arg spät.

Als bliebe nicht mehr viel Zeit.

Einer unserer Lieblingssprüche lautet: „Es ist fünf vor Zwölf“.

Und dann gehen die Jahre ins Land - und, komisch, immer wieder und immer noch soll es fünf vor zwölf sein.

Brauchen wir das?

Dieses Bewusstsein, dass nur noch ganz wenig Zeit bleibt?

Brauchen wir das, um noch in letzter Sekunde (wie in einem Hollywoodfilm) in die Gänge zu kommen zur Rettung des Weltklimas, zur Verhinderung des Terrors und des Krieges und was es sonst noch schwer Erreichbares zu tun gibt?

Wenn man mal von solch hysterischen 5-vor-12-Appellen absieht, die wohl eher zur Abstumpfung denn zur Schärfung der Gewissen führen,
- etwas ist ja dran an unserem Bewusstsein der späten Stunde.

Dieses Gefühl hat durchaus mit unserer Lebenserfahrung zu tun.

Wir sehen ja, wie schnell es aus sein kann.

Mit dem Regenwald.

Mit dem Respekt vor den Grenzen des technisch Machbaren.

Mit dem Frieden.

Und mit unseren ganz persönlichen Plänen, all unserem Dichten und Trachten, mit dem Dasein auf Erden.

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ ist ein Lied, das diese Erfahrungen versammelt.

„Hin geht die Zeit, her kommt der Tod“.

Das ist und bleibt leider Grundbestandteil unseres Lebens.

Dennoch, Paulus will uns ermutigen, auch mal die Blickrichtung zu wechseln.

Mit seinen leidenschaftlichen, das Leben und das Licht liebenden Worten will er uns (im wahrsten Sinne) er-muntern, anders zu fragen.

Nicht: wie spät.

Sondern: wie früh!

Für Paulus ist es nicht „fünf vor zwölf“, sondern, sagen wir mal, vier Uhr dreißig – da steh‘ ich in der Regel auf.

Es ist noch dunkel.

Die Nacht hat noch kaum von ihrer Schwärze und Macht eingebüßt.

Aber bald kommt ein Lichtschimmer am Horizont.

Der verspricht uns, dass der Morgen bald kommt.

Ein Morgen von klarstem und reinstem Licht, voller Vogelgezwitscher.

Aufstehen!

Es ist eigentlich jammerschade, auch nur einen solchen Morgen zu verpassen, auch für bekennende Langschläfer.

Es entgeht einem viel.

Eine stille Welt, ohne Autos.

Eine frische Luft, wie man sie den ganzen Tag nicht mehr riechen wird.

Der Tau auf dem Gras, die Sonne, die durch den Frühnebel bricht.

Alles so ungestört und wie neu geschaffen.

Doch Paulus meint noch viel mehr.

Sein Morgen ist nicht einfach nur schön und ergreifend.

Es ist der Morgen schlechthin, der die ganze Welt verändert, sie in einem neuem Licht strahlen lässt.

Der Morgen, an dem alles, aber auch wirklich alles zum Guten sich wendet.

Es ist der Morgen, an dem heil wird, was zerbrochenen Herzens war.

An dem klar wird, was dunkel und trübe war.

An dem frei wird, was in Ketten gebunden lag.

An dem sich verwundert die Augen reiben wird, was auf dem Boden der harten Tatsachen ranzig und grau geworden war.

Es ist Advent, und mein Christus kommt.

Mein Heil, meine Klarheit, meine Erlösung, mein großes Staunen.

So soll es auch in diesem Jahr unsere Freude sein, unsere Hoffnung und Zuversicht.

Wie früh ist es?

Es ist ganz früh am Morgen.

Es ist noch dunkel draußen (und bei uns drinnen, im Herzen, auch).

Aber das wird sich bald ändern.

Nicht mehr lange, dann tagt es.

Drehen wir uns ruhig noch einmal um im Bett, schließen die Augen zwischen Wachen und Träumen.

Dann heißt es aufstehen.

Was für ein Geschenk, was für eine Gnade: aufstehen zu können.

Sich entscheiden zu dürfen!
Nicht mit dem „linken Fuß“, mit dem rechten.

Das soll unser Vorsatz sein für den großen Tag, der kommt.

Was uns in der Nacht bedrückt hat und gequält, wir sollen, wir dürfen es hinter uns lassen.

Ablegen die „Werke der Finsternis“.

Damit sind, glaube ich, unsere Sorgen, unsere Ängste gemeint.

Durchaus auch all das Schäbige und Hässliche, was wir in der Seele tragen.

Die ganze Trägheit, Mutlosigkeit, Verzagtheit.

All das, was uns glauben macht, es wäre schon spät und nicht früh.

Unser Dahinleben, als behielte die Nacht die Oberhand.

Als käme kein Morgen, schon gar nicht der alles verwandelnde große Morgen Gottes, dem noch manche Nacht folgen wird, aber keine Finsternis mehr.

Wir strecken uns.

Wir dehnen uns.

Breiten die Arme aus.

Ich darf aufstehen.

Auf mich wartet die Helligkeit.

Dazu gehört dann auch das Frisch machen!

Normalerweise starten wir nicht ungewaschen, ohne Zähneputzen, ohne saubere Wäsche in den Tag

Man wäre und bliebe muffig.
Man fühlt sich dann in der eigenen Haut nicht wohl.

Die Spuren der Nacht, sie hängen an einem und strahlen auf andere aus.

Was Paulus als Beispiele eines ungereinigten, nach Schlaf und Nacht riechenden Lebens meint, ist bezeichnend, aber auch austauschbar.

Es geht nicht nur ums „Fressen“ oder „Saufen“, nicht nur um Unzucht oder Hader und Eifersucht.

Das alles sind vor allem Hinweise, wozu ein „Nacht-Leben“ führt bzw. führen kann.

Paulus warnt davor den anderen Menschen nicht mehr als Nächsten, als Mitmenschen anzusehen, mit Respekt, in seiner Würde – sondern Lust-, Hass- oder Neid-Objekte.

Leben in solch geistiger Umnachtung driftet aufs Chaos zu, auf ein „Jeder gegen Jeden“, auf den hoffnungslosen Satz: „Lasst uns fressen und saufen, denn morgen sind wir tot“.

Paulus erhebt zu Recht den moralischen Zeigefinger, aber nicht aus Besserwisserei oder Rechthaberei.

Sondern weil wir als Geschöpfe Gottes einfach zu kostbar sind.

Aufs Licht hin hat uns Gott geschaffen, nicht für die Nacht.

Es wäre so schade, wenn wir das einfach so aus Rücksichtslosigkeit verspielen würden.

Paulus verwendet zum Schluss ein seltsames, aber auch eines der eindrücklichsten Bilder, wenn er davon spricht, den Herrn Jesus „anzuziehen“.

Auf unserer gereinigten Haut ist Jesus Christus das denkbar schönste Kleid, der kostbarste Anzug.

Er ist aber eben gerade nicht nur ein „Sonntagsstaat“.
Jesus Christus ist ein Gewand für den harten, rauen Alltag, die Kälte, die Straße.

Wir dürfen, sagt Paulus, gleichsam in ihn hineinschlüpfen, dass er uns Schutz und Wärme gibt.

Und heißt es nicht zu Recht, „Kleider machen Leute“?

Wer in den Herrn Christus gewandet ist, kommt in einem Gewand daher, das unüberbietbar schlicht und strahlend zugleich ist.

Wer es trägt, der wird schön und reich an Würde und Zufriedenheit, an Dankbarkeit und Liebe.

Damit kommen wir zum Anfang des Predigttextes zurück.

Die Liebe, sagt Paulus da, „ist des Gesetzes Erfüllung“.

Alles, was uns Menschen an Rat und Gebot gesagt worden ist, braucht keine Buchstaben mehr, wo wir lieben.

Wo wir einander ernst nehmen.

Wo einer im anderen das geliebte Geschöpf Gottes sieht, für das Licht und den Morgen geschaffen.

Unersetzlich und kostbar.

Das Kleid des Herrn Jesus Christus auf unserer Haut, gehen uns die Augen auf dafür.

Wir spüren, wie sehr wir geliebt sind.

Und das verwandelt uns.

Aus dunkel wird hell.

Aus Nacht bald Morgen.

Zieht an den Herrn Jesus Christus.

Amen.

 

Der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.