31.12.2020 - "Barmherzig sein" - Predigt zur Jahreswende über die Jahreslosung Lukas 6,36 (Pfr. Fischer)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Gemeinde, Geschwister in Christus!

 

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)

 

So ein Satz ist für eine Predigt irgendwie ungünstig.

Denn er spricht ja schon für sich: Werdet warmherzig, mitfühlend, macht andere nicht runter, vergebt einander, seid freigiebig, seid ehrlich miteinander – vielleicht auch: Seid ehrlich mit euch selbst.

Was immer auch mit Barmherzigkeit gemeint sein kann, es ist für eine menschliche Existenz eine Nummer zu groß.

Mit Gottes Barmherzigkeit kann ich nicht mithalten.

Alle anderen Versuche verführen zu einem umfangreichen moralischen Anspruch:

Seid nett zueinander und kehrt immer zuerst vor eurer eigenen Tür.

Solche moralischen Deutungen können es mir wirklich verleiden, gern Christ zu sein.

Genauso sehen uns doch die Verächter der Religion: als Besserwisser, die angeblich genau wissen, was man tun soll und was nicht.

Und sich selber dann nicht daranhalten können.

Aber fast noch schlimmer finde ich, dass diese moralischen Appelle so platt klingen.

Da wäre ja doch jeder draufgekommen.

„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Das ist doch nicht sonderlich christlich – das ist doch Allgemeingut.

Da sind wir von Jesus aber Besseres gewohnt als platte Moral: Seid nett zueinander und kehrt zuerst vor der eigenen Tür.

Weil wir von Jesus aber Besseres gewohnt sind, schauen wir lieber noch mal genauer hin.

Es sind wohl zwei Dinge, warum ich es mit der schlichten Moral so schwer habe.

Ich will nicht hören, was man denn so zu tun habe.

Denn was man tut, das weiß ich doch selber, das lässt man sich nicht gern sagen.

Und zweitens weiß ich, ich kann mich nicht daranhalten, auch wenn ich will.

Ich bin – denke ich – ein umgänglicher Mensch.

Ich sehe in den Menschen meist das Gute.

Das lässt mich dann manchmal ziemlich blöd dastehen, denn es gibt sehr viele Menschen, die legen gar keinen Wert darauf, für gut gehalten zu werden.

Es ist cool, „bad boy“ oder „bitch“ zu sein.

Ich gebe zu, auch ich halte nicht durch, immer nett zu sein. – Vielleicht könnte ich auch sagen:

Ich halte das nicht aus.

Es ist der größte Kraftakt, den ein Mensch vollbringen kann: immer nett zu sein.

Das ist nicht zum Aushalten: niemanden spüren lassen, dass er mir nicht sympathisch ist, alle Flegeleien und Unverschämtheiten verzeihen, jedem etwas zu geben, der mich bittet: Geld, Zeit, Gehör, Vertrauen.

Sich niemals besser fühlen als ein anderer und für alles, was schiefläuft, die Schuld erst bei mir zu suchen.

Ich bin fest davon überzeugt, wer das durchhält, ist verrückt oder heilig.

Das liegt aber ja auch dicht beieinander.

Ich bin versucht, sogar noch weiterzugehen:

Permanent nette Menschen sind anderen keine Hilfe – sondern ein Klotz am Bein.

Wenn ein Schüler mit seiner „Vier“ in Religion nicht einverstanden ist und dann lauthals schimpft und drauf und dran ist, den Relilehrer zu beleidigen.

Dann ist aber Schluss mit nett.

Da wird auch der frömmste Relilehrer schon mal sauer – und bleibt nicht nett.

Wie viel Eindruck das macht, weiß ich nicht.

Was ich aber ahne, ist Folgendes: Oft ist weder die Vier noch das Beleidigen wichtig.

Es ist meist ein Kräftemessen.

Sie wollen merken, wie weit sie mit ihrer Kraft gehen können, welchen Erwachsenen sie schon beeindrucken können oder gar gegen wen sie sich durchsetzen können.

Da kommt so ein Lehrer als einer, der in der Position des Stärkeren ist, gerade recht.

Es geht ihm nicht um die Person, jedenfalls nicht immer, es geht um seine Funktion.

Die Schüler brauchen ihn und andere Erwachsene (besonders ihre Eltern), damit sie sich an ihnen abarbeiten.

Das ist nicht schön – das ist ungemütlich.

Und mit immer nett sein geht es leider nicht immer.

Also manchmal schon, wenn klar ist, dass die Stärke darin liegt, auch noch nett sein zu können.

Ohne Menschen, die den Jugendlichen sagen „Das geht“ und „Das geht nicht“, werden sie nie herausfinden, was sie eigentlich selbst mit sich in diesem Leben anfangen wollen.

Immer nur nachgeben, verzeihen, geben – ehrlich, das hilft nicht.

Seid barmherzig.

Wirklich?

Manche Zeitgenossen stellen sich aber auch zu sonderbar an.

Hand aufs Herz, wer von uns hat nicht schon einmal gelästert?

Über die Kollegin, die wichtige Akten verschlampt, über den Nachbarn, der am Sonntagmittag den Rasen mäht, über Politiker, die sich gegenseitig beleidigen, über den Pastor, der auf der Kanzel Blödsinn erzählt.

Und warum auch nicht?

Wir können doch nicht mit allem und jedem die Betreffenden selbst behelligen.

Wir kämen ja zu nichts anderem mehr als miteinander zu klären, was uns aneinander stört.

Auf der anderen Seite können wir aber auch nicht jeden Ärger in uns hineinfressen.

Es ist gut, dann und wann mit der Freundin oder einem gemeinsamen Bekannten ein wenig zu lästern.

Psycho-Hygiene heißt das auf schlau.

Allerdings darf das Lästern nicht das letzte Wort haben; sonst wird Psycho-Verschmutzung draus.

Manches muss ausgesprochen werden, dann kann es wieder weitergehen - und zwar mit dem Betroffenen und nicht über ihn!

Das ist nicht nett, aber manchmal hilfreich.

Soweit, so gut. Wir können gar nicht immer nett sein.

Vielleicht seid ihr mit mir der Meinung, dass daran sogar etwas Gutes sein kann.

 

„So etwas tut man aber nicht.“

So eine Moral ist unbrauchbar.

Jesus kennt uns Menschen, er weiß das auch.

Es muss also in den Worten der Bibel mehr stecken.

Ich will euch verraten, wo ich das sehe.

Gott ist mit uns barmherzig.

Das ist sein Geschenk des Lebens an uns.

Es geht um die Fülle.

Die Fülle des Lebens.

Die ist mit Moral nicht zu erreichen, denn sie ist größer, als wir uns vorstellen.

Das Maß, mit dem Gott uns messen wird, ist die Fülle, ja der Überfluss des Lebens.

Heißt also: Wir können mit Gottes Augen, mit Gottes Maßstäben auf unsere manchmal so kleinliche Welt sehen.

Die Fülle des Lebens, die sollen wir im Blick haben.

Darum geht es Jesus.

Wenn wir uns um Kleinigkeiten streiten, halt den Splitter im Auge des Nächsten sehen, dann haben wir die Fülle des Lebens nicht mehr im Blick.

Einen Balken im Auge. Heute würden wir wohl sagen: ein Brett vor dem Kopf.

Wenn wir danach gucken, wo andere ihre blinden Flecken haben, sehen wir auch nicht viel mehr als sie.

Ein Blinder führt den anderen und beide fallen auf die Nase.

Da ist dann nichts mehr von Fülle des Lebens.

Wenn ich mich als Erwachsener also auf ein Pubertäts-Gerangel mit Jugendlichen einlasse, dann darf ich ihnen sagen, was ich denke, wie er sich jetzt verhalten muss, ich darf nur nicht verlangen, dass er so wird, wie ich ihn haben will.

Denn wie ein Mensch wird, was er in seinem Leben hassen und was er lieben wird, worauf er sich verlassen will oder wogegen er sich wehren will, das wird er mit Gottes Hilfe herausfinden – nicht mit meiner Meinung.

Da muss ich den Blick und mein Herz weit machen.

Schließlich dürfen wir sogar lästern, aber nur mit der Fülle des Lebens im Blick.

Wenn unser Lästern anderen Menschen schadet oder sogar schaden soll, wenn es nicht um unsere Psycho-Hygiene geht, sondern um Rache, Neid und Missgunst, dann ist es Zeit, den Blick zu öffnen.

Und danach zu suchen, was mich wieder menschlicher auf andere sehen lässt.

Denn Gottes Augen sehen auf das Herz eines Menschen.

Tiefer als unsere.

Die Moral Jesu ist nicht: Seid jederzeit nett zueinander.

Das klappt nicht.

Sie heißt: Verliert euch nicht in den lästigen Kleinigkeiten.

Denn Gott hat Großes für euch.

Er verheißt uns die Fülle des Lebens.

Nicht weil wir so toll im Einhalten der Moral sind, sondern weil er uns liebt.

Wenn wir das in den Blick nehmen, sieht die Welt ganz anders aus.

Vor allem aber leichter.

Gott sei Dank.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.