10.01.2021 - "Platin (statt Gold)!" - Predigt zum Taufsonntag Jesu zu Röm. 12. 1-5 von Pfr. Koller
Röm. 12, 1-5
1 Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. 3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. 4 Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, 5 so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des Andern Glied.
Wir sind in ein neues Jahr gegangen, aber die Ängste aus dem alten haben wir mitgenommen! Und sie sind in den wenigen Tagen des neuen Jahres ja nicht weniger geworden: die Angst vor einem Bürgerkrieg in den USA, die Angst vor einer rasant sich verbreitenden Mutation des Corona-Virus, Existenzängste angesichts eines nicht enden wollenden Lock-Downs… Ängste auch in unseren Kirchengemeinden wie diese im Jahr 2024 aussehen werden, wenn der neue Landesstellenplan umgesetzt sein muss und ca. 10 bis 15 % der Stellen gekürzt worden sind…
Ein zeitgenössischer Kommentator skizziert das Lebensgefühl des modernen Menschen wie folgt:
„Es ist so, als wollte unsere Welt auseinander brechen… Menschen leben in Angst…
Schaut man etwas tiefer, so mag man erkennen, wie sich unser Zusammenleben auflöst. Menschen vereinsamen und vereinzeln sich. Dass Ehen und Familien zerbrechen, gehört leider heute zur unhinterfragten Realität. Jedes 7. Kind hat meist im Alter von 13/14 Jahren den Verlust familiärer Geborgenheit erlitten. Woran soll, woran kann man sich noch orientieren? Religion, Kirche und Glaube verlieren an Prägungskraft. Wir leben in Freiheit und in Frieden. Doch es scheint so, als wüsste das kaum jemand zu schätzen. Wir leben in einem sehr reichen Land und haben dennoch wachsende Armut unter uns, die aber gerne statistisch verschleiert wird. Überall geht es nur noch um Wirtschaft, Gewinn und Märkte. Der „Markt“ ist der Götze des neoliberalen Denkens. Auf einem Markt muss jeder schauen, wie er handelt. Wir sind frei – wir sind einsam. Kümmere dich um dich selbst, ist die Devise! Sorge für dein Alter, sorge für deine Gesundheitskosten, sorge für deine Karriere! Wir sind reich, aber für Pflege und für Bedürftige ist kein Geld da… Das ist die „Vernunft“, die unserer derzeit Welt innewohnt.“
Der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer (Bielefeld) fasst seine Einschätzung unserer Zeit so zusammen:
1. Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit;
2. je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz;
3. je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität;
4. je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung;
5. je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung;
6. je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtsloses Durchsetzen.
Am heutigen Sonntag redet der Apostel Paulus zu uns. Er spricht von Hingabe und von Opfer. Er fordert: Erneuert eure Art zu denken. Denkt maßvoll von euch selbst.
Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage … jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.
Und dann greift Paulus ein zu seiner Zeit wohl sehr bekanntes Bild auf: Wir sind in Christus ein Leib.
Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben,
so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied.
Das Bild vom Körper als Symbol menschlichen Zusammenlebens war zu Paulus Zeiten jedem Gebildeten wohlbekannt – hatte es doch einst Frieden gestiftet im Rom des 3. vorchristlichen Jahrhunderts!
Der römische Geschichtsschreiber Livius hat die Geschichte des Aufruhrs des „Plebs“ gegen die Patrizier ausführlich überliefert. Dabei wurde folgende Passage zum „Allgemeingut“:
„Einst, als im Menschen noch nicht alles so einstimmig gewesen sei, wie jetzt, sondern jedes Glied seinen eignen Willen, seine eigne Sprache hatte, habe es die übrigen Glieder verdrossen, dass ihre Sorge, Arbeit und Dienstleistung alles nur für den Magen herbeischaffe, der Magen aber, ruhig in der Mitte, nichts weiter tue, als dass er in den ihm zugeführten Genüssen sich sättige. Sie hätten sich also verabredet, die Hände sollten keine Speise zum Munde führen, der Mund die gebotene nicht annehmen, die Zähne sie nicht zermalmen. Über diese Spannung, in der sie den Magen durch Hunger zu zwingen dächten, waren zugleich die Glieder selbst und der ganze Körper auf den höchsten Grad der Auszehrung gebracht. Da sei es ihnen einleuchtend geworden, dass auch das Geschäft des Magens nicht in Untätigkeit bestehe, und dass er ebenso, wie er genährt werde, auch selbst wieder nähre, indem er das durch Verdauung der Speise gezeitigte Blut, wodurch wir leben und gedeihen, auf die sämtlichen Adern verteilt, in alle Glieder des Körpers ausgehen lasse.“
Kurz gesagt: Es kam zu einer Aussöhnung zwischen Plebejern und Patriziern.
Dieses Gleichnis vom Körper als Bild menschlicher Gemeinschaft hat Paulus aufgegriffen. Daran, wie er es gewandelt hat, sieht man seine Absicht: Stand bei Livius noch die Rechtfertigung des „Magens“, also der Patrizierherrschaft, im Vordergrund, so verzichtet Paulus auf jede Wertung. Er denkt nicht an Hierarchie! Ihm ist der Zusammenhang, oder besser: Zusammenhalt wichtig:
Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied.
Gemeinschaft im Leib Christi heißt, füreinander da zu sein. Menschen unterscheiden sich, in dem, was sie können; in dem, womit sie begabt sind. Diese Unterschiede leugnet Paulus nicht. Aber weil wir getaufte Christen sind und zur Gemeinschaft der Heiligen gehören, sind wir gehalten, unsere Begabungen im Mit- und Füreinander einzusetzen! Wenn der Apostel das Bild von dem einen Leib und seinen vielen Gliedern aufgreift, dann will er auf seine Weise, was auch der Geschichtsschreiber Livius wollte:
dem inneren Frieden der Gemeinde dienen!
Diente das Bild einst dazu, Frieden zu schaffen im Zusammenleben unterschiedlicher Menschen, so hatte es in der Kirchengeschichte stets den Zweck, das Wesen der Kirche zu beschreiben: Kirche ist eine begabte, eine charismatische Dienstgemeinschaft. Für gewöhnlich wird dieses Bild nach innen gewandt. Gerne nimmt man es her, um den inneren Zusammenhang einer Gemeinde zu beschreiben: Alle sind notwendig von der Gemeindebrief-Austrägerin über die Chorleiterin bis hin zum Pfarrer. Jede und jeder nach seinen Gaben!
Aber jetzt wende ich das Bild nach außen und frage: Was kann Kirche dazu beitragen, dass der innere Friede unserer Gesellschaft erhalten bleibt?
Was kann Kirche dazu beitragen, dass Menschen wieder Orientierung finden?
Oder mit den Worten des Apostel Paulus zu sprechen: Wie schauen die Umrisse des „vernünftigen Gottesdienstes“ in unseren Tagen aus?
Bei einem Kollegen fand ich den originellen Gedanken, sich ein Kreuz aus Platin vorzustellen! Warum Platin? Sie wissen es womöglich: Wenn Sie Autobesitzer sind, dann sind Sie auch Besitzer dieses edlen Stoffs! Platin ist in Ihrem Katalysator eingebaut und hat die Aufgabe, Abgase zu entgiften! Er selbst wird dabei nicht verbraucht.
Und so sehe ich die Aufgabe unserer Kirche in unseren so unruhigen Tagen: Sie hat der Entgiftung zu dienen! Es sind so viele giftige Gedanken unter uns: Vorurteile gegenüber Mitbürgern mit ausländischer Herkunft, Hass gegenüber Fremden, Gleichgültigkeit im sozialen Umfeld, Vereinzelung, Rücksichtslosigkeit…
Wie man eine Gesellschaft entgiftet? Das ist ein langwieriger Prozess! Und für uns Christen und Christinnen eine lebenslange Aufgabe. Es bedarf unserer Opferbereitschaft, die „lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.“
Wohl täglich hören wir giftige Gedanken. Und wer wollte leugnen, dass sie hier und da auch in unserem eigenen Kopf wohnen!
„Stellt euch nicht dieser Welt gleich“, mahnt Paulus! „Ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene!“
Natürlich muss ich mit dieser Entgiftung bei mir selbst anfangen. Aber dabei darf ich, darf auch Kirche nicht stehen bleiben! Wir erinnern uns am heutigen Sonntag der Taufe Jesu und seiner Beauftragung durch Gott. Auch wir sind getauft und beauftragt von unserem Herrn Jesus Christus in die Welt zu gehen und wie er unsere Stimme zu erheben!
Natürlich darf, ja, muss man das benennen, was falsch ist! Falsch ist es, wenn im Namen egal welcher Religion, Morde begangen werden. Falsch ist es, wenn wir fremden Menschen mit Misstrauen begegnen. Falsch ist es, wenn wir nicht mehr auf Christus hören, und Flüchtlingen Schutz verweigern. Falsch ist es, wenn wir nationalistisches Gedankengut aus der Mottenkiste holen. Falsch ist es, wenn wohlhabende Menschen gegenüber Hilfsbedürftigen gleichgültig werden. Falsch ist es, wenn wir uns aufstacheln lassen…
Das Falsche muss benannt werden! Das muss dann auch jeder ertragen können! Und er kann es, wenn er in allem dennoch Respekt spürt.
Denn wer Angst hat, bedarf keiner Belehrung! Er bedarf des Vertrauens. Das entsteht aber nur dann, wenn man sich mit Respekt begegnet, verbal abrüstet und vernünftig miteinander spricht. Gegeneinander demonstrieren mag ja politisch richtig sein, aber christlich richtig ist es nicht!
Ja, wir können und sollen für eine gute Zukunft beten! Aber was die Welt braucht ist gelebtes Vertrauen, im Alltag praktizierte Nächstenliebe und vor der Welt bezeugtes Gottvertrauen, das die heutigen Dämonen mit ihrem Gift der Spaltung erkennt, benennt und bannt!
Eine Kirche, die ihrem Auftrag nachkommt, Katalysator zur Entgiftung dieser Welt zu sein, wird sich um ihre Zukunft nicht wirklich Sorgen machen müssen. Eine Kirche, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt, mit Strukturreformen und Landesstellenplänen, und darüber ihren Auftrag vergisst, wird sich freilich nicht wundern dürfen, wenn sie am Ende kaum noch gesellschaftliche Relevanz besitzt.
Deshalb stelle ich Ihnen am Ende noch einmal das Bild des Kreuzes aus Platin vor Augen – als einprägsame Erinnerung was wir Christen sind und sein sollen, was Kirche ist und sein soll: Katalysatoren zur Entgiftung dieser Welt!
Amen.