08.08.2021 - Zeigen, was man liebt! - Predigt am „Israelsonntag“ (10.Sonntag nach Trinitatis) zu Röm. 9. 1-5 von Pfarrer Rudolf Koller
1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, 4 die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.
(Röm. 9. 1-5)
Die Stadt Alexandria war in der Antike ein einzigartiges kulturpolitisches Laboratorium. Griechen, Juden und Ägypter lebten nebeneinander und miteinander. Hier übersetzte man die Hebräische Bibel ins Griechische, betrieb philosophischen Diskurs und naturwissenschaftliche Forschung, sammelte Bücher aus unterschiedlichen Traditionen zu allen möglichen Themen und legte die sagenumwobene Bibliothek von Alexandria als Wissensspeicher an.
Der Ruhm der Stadt als Kulturmetropole sollte mit einer hochgebildeten Frau, mit der Philosophin und Mathematikerin Hypatia, einen letzten Höhepunkt finden.
Dass sie im März 415 n. Chr. von christlichen Mönchen, die der berühmte Patriarch Kyrill aufgehetzt hatte, ermordet wurde, setzte einen grausigen Schlusspunkt unter Alexandrias Geschichte als Stätte des Geistes. Die Christen, die zunehmend die Macht an sich gerissen hatten, bekämpften die aus ihrer Sicht Ungläubigen. Zuerst attackierten sie die Juden, dann die sogenannten Heiden. Die schlimmsten Hetzer waren christliche Geistliche, die sich bei ihren Hasspredigten paulinischer Texte über Juden und Frauen bedienten. Andersgläubige wurden zwangsbekehrt, vertrieben oder umgebracht, nach dem Motto: „Wer nicht glaubt, muss dran glauben" (Otfried Fischer). Die weltberühmte Bibliothek, die sie für einen Hort des Aberglaubens hielten, wurde vernichtet.
Das war kein Einzelfall in der Geschichte des Christentums. Vor gerade einmal 25 Jahren geschah etwas Ähnliches mitten in Europa:
Römisch-katholische und orthodoxe Christen bekriegten sich, zwischendurch paktierten sie miteinander und vertrieben und töteten Muslime. Im Jahre 1996, nach vier Jahren Belagerung, lag die multi-ethnische Stadt Sarajevo, in der muslimische Bosniaken, orthodoxe Serben, katholische Kroaten und areligiöse „Jugoslawen" lebten, in Trümmern.
11.000 Einwohner aus allen Volksgruppen waren ums Leben gekommen.
Bereits zu Beginn der Belagerung, in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992, schossen serbische Belagerer gezielt die berühmte, 1000 Jahre alte Vijećnica-Bibliothek in Brand. In dieser Bibliothek wurden über 2 Millionen Schriftstücke aufbewahrt. Es waren Dokumente aus der bosnischen, kroatischen und serbischen Geschichte, Zeugnisse ihrer Kulturen und Religionen.
Dazu gehörte auch das Erbe der seit 500 Jahren dort ansässigen jüdischen Gemeinde. 90 Prozent des Bibliotheksbestandes gelten heute als vernichtet. Die christlichen Seiten agierten ausdrücklich nach dem Motto: „Wer nicht (richtig) glaubt, muss dran glauben." Zu den schlimmsten Kriegshetzern gehörten franziskanische Mönche und orthodoxe Geistliche, die explizit einen Religionskrieg propagierten und ihn theologisch legitimierten.
In Alexandria wie in Sarajevo waren Vielfalt, friedlicher Disput, ehrliches Ringen um Wahrheiten und Gemeinsamkeiten, Kompromisse, Koexistenz unterschiedlicher Ethnien und Glaubenstraditionen zu Unwerten geworden. Die Bibliotheken als gestaltgewordene Symbole der Vielfalt, die Speicher unterschiedlicher Lebens- und Glaubenserfahrungen, waren zum Ärgernis geworden, die man vernichtete und verbrannte.
Warum erzähle ich Ihnen das?
„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" schreibt Franz Rosenzweig.
Im Blick auf unseren heutigen Predigttext, der sich mit dem Verhältnis von Christen und Juden befasst, bedeutet das ein Doppeltes: Es ist wichtig, dass wir uns an beides erinnern: an die positive wie auch an die fatale Wirkungsgeschichte so mancher neutestamentlicher Texte!
Ich bin sicher, Paulus - hätte er gewusst, wozu seine Äußerungen über Juden und Christen im Laufe der Geschichte herhalten mussten – er hätte mit Sicherheit anders formuliert oder gar nicht gesagt, was er im 9. Kapitel seines Römerbriefes schreibt!
Dort nämlich redet er später von den Erwählten und den Verworfenen, teilt die Menschen ein in Recht- und Falschgläubige, in Gerettete und Verlorene, stellt eine Erwählungsreihe her, ausgehend von Isaak über Jakob zu Mose und benennt parallel dazu eine Verwerfungsreihe von Ismael über Esau zum Pharao. Geschichtlich verhängnisvoll wurde, dass der Theologe Paulus die Kirche an die Erwählungsreihe anschloss und Israel in die Verwerfungsreihe stellte.
Genau das hat in den vergangenen zweitausend Jahren immer wieder fanatische Christen zu solch schauerlichen Aktionen gegen Andersgläubige motiviert. Auch wenn man klarstellen muss, dass sie den Theologen Paulus für ihre eigene Politik missbraucht haben, dass sie den Theologen gar nicht verstanden und auch nicht verstehen wollten, der ja um die – theologische und eben nicht politische! - Identität der Kirche rang - in Abgrenzung und im Benennen der Gemeinsamkeiten von Juden und Christen, und der dabei „große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass“ in seinem Herzen hatte – war er doch selbst Jude und seinem Volk von Herzen verbunden!
Nein, der Apostel Paulus hätte weder die Geschehnisse in Alexandria noch in Sarajevo und schon gar nicht den Holocaust in Deutschland gewollt. Er wäre ja, wie er schreibt, bereit gewesen, sogar sich selbst zu opfern dafür, dass seine israelitischen Glaubensbrüder zum Glauben an den Messias Jesus Christus gekommen wären. Wobei dazu gesagt werden muss, dass auch das eine problematische Aussage ist. Hat Gott doch neutestamentlichem Zeugnis nach mit dem Opfertod und der Auferweckung Jesu Christi ein für alle Mal gezeigt, dass er keine weiteren Opfer will, auch keine Selbstopfer!
Das Positive an den Worten des Paulus ist etwas Anderes: Letztendlich entscheidet Gott. Er allein hat den Überblick über seine heilsgeschichtlichen Pläne. Der Mensch blickt da nicht durch und alle menschlichen Versuche, darüber Endgültiges zu sagen sind schlichte Anmaßung. Zugehörigkeit zu „Israel" wird weder durch Geburt noch durch menschliches Handeln, sondern durch das freie Erwählungshandeln Gottes geschaffen, so der Apostel Paulus. Deshalb können Glaubende sich niemals herausnehmen, Andersgläubige zu verdammen.
Liebe Gemeinde, die Vielheit der Glaubens- und Lebensentwürfe, die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen in unserem Land sind Tatsachen. Denen müssen wir uns stellen. Entscheidend ist, wie wir das als Christen tun. Das heißt aber auch, dass Wegsehen und Nichtstun und einfach ignorieren No-Go für Christen sind!
Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan sagt, dass in Sarajevo die kulturelle Identität unverbrüchlich mit einer Art sozialem Unbehagen verbunden sei, weil das Lebensumfeld den Menschen dort ständig daran erinnert, dass die Welt voll von andersartigen Leuten ist, dass sein Glaube nur einer von vielen ist, dass er und alles Seine nur eine von unzähligen Möglichkeiten im Ozean der göttlichen Allmacht sind. Und er meint, dass es von seinem Charakter oder seinem Erleben der Welt abhängt, ob sich ein Mensch über die bunte Vielfalt um ihn herum freut oder ob er an ihr leidet, ob er die unterschiedlichen Leute um ihn herum als Möglichkeit und Verpflichtung, sich besser und tiefer zu erkennen auffasst oder als Gefahr, gegen die er sich wehren muss.
Für uns Christen kann ein Verhalten nach dem Motto: „Wer nicht (richtig) glaubt, der muss dran glauben" keine Lösung sein. In der Diskussion um die Gestaltung des Zusammenlebens in unserem Land ist heute auch der moderater klingende Ruf nach der Integration von Migranten zweifelhaft geworden. Der Ruf nach Integration, so sagen Kritiker, sei vor allem eine Angstreaktion auf die Vielheit, nach dem Motto: „Wenn die Anderen so werden, wie wir denken, dass wir sind, dann kommt alles in Ordnung." Wirklich wichtig sei etwas ganz anderes. Auf das Dazwischen kommt es an: auf die aktive Gestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen verschiedener Kulturen und Religionen. Um eine Beziehungskultur geht es, die die eigene Identität nicht verleugnet und dem anderen seine Identität nicht nimmt. Es ist an der Zeit, eine „Interkultur" zu entwickeln. So hat es der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem gleichnamigen Buch genannt. „Interkultur“ - das ist die Kultur im Zwischen. Und auf das Dazwischen kommt es an!
Dabei muss die Anerkennung der Vielheit nicht bedeuten, dass man seine eigene Religion relativiert. Ich kann sagen, was ich für mich für richtig halte und woran ich glaube. Ich kann dafür werben im positiven Sinne. Christliche „Mission heißt zeigen, was man liebt" (Fulbert Steffensky). Das macht man nicht im Befehlston mit exklusivem Anspruch!
Anerkennung der Vielheit muss auch keineswegs bedeuten, dass man jede Form von kultureller oder religiöser Äußerung gutheißen müsste. Wenn jemand die Kultur oder die Religion anruft, um andere Gruppen abzuwerten, oder wenn Personen um die vorgebliche Rettung ihrer Religion willen andere Menschen bedrohen oder verletzen, dann gibt es nicht den geringsten Grund für Toleranz.
Was hilft zur Entwicklung einer solchen Interkultur? Zuallererst Begegnungen und der persönliche Austausch über die je eigene Geschichte, das konkrete gegenseitige sich „zeigen, was man liebt".
Eine wichtige Rolle für das Verständnis des Eigenen und des Fremden spielen natürlich auch Texte und Schriften, alte und neue Bücher, Geschichten, Filme und Musik - Medien, in denen Lebenserfahrungen, religiöses Wissen und das Ringen um Wahrheit und ethische Entscheidungen gespeichert sind. Wer liest und schaut und hört kann sich in Andere hineindenken und einfühlen. Die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu ist ein wesentlicher Schritt zur Entwicklung einer konstruktiven Interkultur zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen.
Es geht darum, diese Verschiedenheit in sich selbst auszuhalten und anzuerkennen, dass der Andere anders ist.
Zuguterletzt: durch alle Ernsthaftigkeit, in der Paulus um den rechten Glauben und die entsprechende Lebenspraxis ringt und dafür wirbt, scheint glücklicherweise auch eine gewisse Gelassenheit hindurch. Denn er weiß, dass all unsere Suche nach Wahrheit, dass aller Wettstreit der Religionen und Ideologien in dieser Welt nur vorläufig ist. Erlösung ist nicht machbar. Am Ende schenkt sie Gott, diesseits und jenseits aller unterschiedlichen religiösen Wahrheiten. Das entlastet alle unsere Begegnungen, weil es in allem nicht mehr um das Letzte geht, sondern um Vorläufiges - was uns gut nebeneinander und - besser noch – gut miteinander leben lässt. Gott sei Dank. Amen.