19.09.2021 - Gott hat sein Volk besucht! - Predigt am 16.Sonntag nach Trinitatis zu Lk. 7, 11-17 von Pfarrer R. Koller
11 Und es begab sich danach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. 12 Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. 13 Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine nicht! 14 Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! 15 Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. 16 Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. 17 Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land. (Lk. 7. 11-17)
Kindergräber sind besondere Gräber. Es sind Gräber, die sich nie ganz schließen. Sobald wir Kinder haben, ist das die größte Sorge, dass sie früh sterben, zu früh, d.h. vor uns, den Eltern. Ich habe selbst Kinder und musste als Pfarrer schon Kinder beerdigen. Ich weiß, dass Eltern, die ein Kind verloren haben, selbst verwaist sind.
Verwaiste Eltern - eine Randgruppe auch unter uns, oft unbeachtet, oft unbewusst. Mit ihrem Schmerz bleiben sie allein. Das Grab ihres Kindes schließt sich für sie nie ganz.
Eine Tageswanderstrecke entfernt von Kapernaum. Zwei, drei Wegstunden von Nazareth, gegenüber dem biblischen Berg Tabor am Südrand Galiläas, liegt an einem Nordhang eine kleine Stadt. Nain oder Naim; was so viel wie „die Liebliche“ heißt.
Auf dem Höhepunkt des jüdischen Krieges, 40 Jahre nach Jesu Tod und Auferstehung, zur Regierungszeit des römischen Kaisers Vespasian, lässt hier ein Simon, Sohn des Giora, einer der großen Anführer des letzten jüdischen Aufbäumens gegen die römische Besatzung, eine Befestigungsanlage bauen. Er hat zeitweise 20.000 Mann hinter sich: Sklaven, Söldner, vor allem aber Angehörige der Unterschicht. Sie will er führen. Die reichen Juden sind ihm ebenso feind wie die römische Besatzungsmacht. König will er werden in Jerusalem. Hier in Nain ist sein Schlupfwinkel. Keine Stunde von hier, und man blickt weit über das Kisontal nach Süden auf die Berge Samarias, nach Osten ins Jordantal. Ein Dreiländereck. Drei Provinzen. Drei verschiedene Regierungen in den Jahren der Wirksamkeit Jesu. Wie ein Hochsitz, versteckt hinter der ersten Baumreihe am Waldrand mit Blick auf freies Feld. So liegt Nain am Nordhang des kleinen Hermon.
„Was kann aus Galiläa Gutes kommen?“ Ein geflügeltes Wort damals. Ein Volk, das sich von nichts und niemand in die Knie zwingen lässt. Das immer wieder neue Aufstände schürt, Unruhe bringt, Widerstand nährt, Anführer gebiert. Wild entschlossen: Freiheit oder Tod. Aber nie unter fremdem Joch. Und nie fremden Göttern unterworfen.
Was kann schon aus Galiläa Gutes kommen?
Wieder hat sich einer aufgemacht aus Galiläa. Auch sein Ziel ist Jerusalem. Auch ihn wird man König nennen und auch er wird in Jerusalem sterben.
Noch wandert er unstet durch seine Heimat. Zu Hause hat man ihn davongejagt.
„Der Geist des Herrn ist auf mir, zu verkündigen das Evangelium den Armen; zu predigen die Freiheit den Gefangenen und Zerschlagenen, zu verkündigen Licht den Blinden.“
Als Jesus aus Nazareth dies von sich selbst sagte, haben sie ihn davongejagt. Zwölf fand er auf seinem Weg. Keine 20.000. Und auch nicht unter Waffen.
Ein Zug des Lebens. Kein Zug, dem der Todesgeruch vorauseilt, wie er allen Armeen vorauseilt. Nein, ein Zug des Lebens, dem der Ruf der Heilung, der Vergebung, des Friedens und des Mitleids vorauseilt. So, als ob Gott sein Volk besucht, in Notzeiten sich in Erinnerung bringt und die Seinen mit Hoffnung erfüllt.
Eine eigenartige Geschichte: Zwei Züge kreuzen den Weg in Nain.
Der Zug des Lebens kreuzt den Zug des Todes.
Wenn ein Kind stirbt, ist dies ein Zeichen für schwere Sünde. So glauben es Jesu Zeitgenossen damals. Doppelt schwere Sünde. Die Frau hat früh den Mann verloren, nun auch noch den Sohn. An seinem Tod wird elterliche Schuld sichtbar, wenn er noch unter zwanzig Jahren ist. Die ganze Vergangenheit. So, wie ja noch heutzutage manche sich anmaßen, in bodenloser Selbstgerechtigkeit dieses oder jenes tragische Ereignis zur gerechten Strafe Gottes zu erklären.
Es ist später Nachmittag. In Palästina werden die Toten am späten Nachmittag oder frühen Abend ihres Sterbetages beigesetzt. In der Hitze schreitet die Verwesung zu schnell voran. Man kann nicht bis zum nächsten Tag warten. Der Tote wird auf einer Bahre aus der Stadt getragen, mit einem Tuch bedeckt. Särge kennt man zu dieser Zeit in Palästina nicht. Schweigend die Männer, laut klagend einige Frauen.
Die Witwe trägt ihre ganze Hoffnung zu Grabe.
Nicht nur, dass ihr das Kind stirbt. Es ist ihr einziger Sohn! Und damit - damals - ihr einziger Versorger und Rechtsvertreter, ihre Heimat und ihre Zukunft.
Witwen und Waisen - stets fassen Altes und Neues Testament in diesem Begriffspaar all die zusammen, die im sozialen Gefüge besonders gefährdet sind. Weil es Lohnarbeit für Frauen nicht gibt, bleibt jungen Witwen, die keine Söhne haben, oft genug nur der Weg in die Prostitution.
Bei Witwen und Waisen beginnen die ersten Christen nach Pfingsten ihre diakonische Tätigkeit.
Zum Schutz der Witwen und Waisen ist auch unsere Diakonie begründet.
„… siehe, da wurde ein Toter hinausgetragen. Seiner Mutter war er der einzige Sohn. Und sie selbst war Witwe. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn.“
Es dreht Jesus das Innerste um, so muss man das griechische Wort übersetzen, das auch für die edleren Teile des Opfertieres, also für Herz, Lunge und Leber steht, wenn sie zur Eingeweide-Schau verwendet werden. „Sie jammerte ihn“ - Darin zeigt sich das innerste Wesen Jesu! Und das ist: Erbarmen!
Und wir? Wir schauen dabei Gott ins Herz!
„Gott hat sein Volk besucht“, sagen später die Zeugen des Geschehens. Gott will nicht, dass Kinder für den frühen Tod gezeugt werden. Er will nicht, dass Müttern und Vätern der Lebensabend geraubt wird. Jesus stellt sich hier nicht dem Sterben an sich entgegen, sondern dem zu frühen Tod, dem Tod, der die Mutter in ihrer Existenz trifft und sie verwaist zurücklässt.
In der Auferweckung des Jünglings von Nain zeigt sich Jesus als „Messias“, als Herr über Leben und Tod, und er zeigt als der „Gesalbte Gottes“, als der mit Gottes Geist Begabte, was letzte Wirklichkeit sein wird - zeigt hier schon, zeichenhaft in seinem Tun, was dereinst sein wird von Angesicht zu Angesicht im Reich Gottes unter einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde, wo Gerechtigkeit wohnt.
„Gott hat sein Volk besucht. Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land.“ So erzählt es der Evangelist Lukas und hält damit fest: Gott war nur zu Besuch. Ein Besuch geht wieder.
Erst später, in der Offenbarung des Johannes, wird der Seher von der gemeinsamen Heimat reden, wo Gott bei den Menschen wohnen wird und sie sein Volk sein werden und er ihr Gott sein wird. Und Gott selbst abwischen wird alle Tränen von ihren Augen.
Aber noch ist es nicht soweit. Noch war Gott nur zu Besuch. Noch sterben Kinder einen frühen Tod.
Noch leben Menschen verwaist. Diese Narben zeigt noch der Auferstandene seinen Jüngern.
Noch war Gott nur zu Besuch.
Aber mit diesem Besuch hat sich etwas, nein, hat sich alles verändert!
Diesem Besuch Gottes ist ein neuer Geist entsprungen - der Geist
- der Gewissheit, dass alle Züge des Todes auf ihren Herrn und Meister stoßen
- ein Geist der Sehnsucht nach Leben in Gottes Reich
- ein Geist des Trostes in aller irdischen Trübsal
- ein Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
- der Geist, der uns alle verbindet zur heiligen christlichen Kirche.
Amen!