19.12.2021 - "Du hast Gnade gefunden!" - Predigt am 4. Advent zu Lukas 1,26-38 (Pfr. Fischer)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wir hören das heutige Predigtwort.

 

Der Evangelist Lukas erzählt, wie Maria mit ihrem Leben in die Geschichte Gottes einbezogen wurde:

(26) Zu der Zeit wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth,
(27) zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria.
(28) Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete!
Der Herr ist mit dir!
(29) Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?
(30) Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden.
(31) Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben.
(32) Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben,
(33) und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
(34) Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß?
(35) Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.
(36) Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei.
(37) Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.
(38) Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.
Und der Engel schied von ihr.

 

Liebe Gemeinde,
die Adventszeit geht in die letzten Tage.

Die Vorgeschichte läuft auf den Höhepunkt zu: Gott wird Mensch.
Zu dieser adventlichen Vorgeschichte gehören beides: die Freude auf das Kommen des Heilands genauso wie das Bedenken der letzten Tage: des letzten Gerichts, das uns alle erwartet.

Wir werden an den Ruf des Täufers Johannes erinnert: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

 

Ich weiß, wie schwer es ist, in diesen adventlichen Tagen an Buße und Umkehr zu denken.

Die heilige Zeit erscheint uns eher als eilige Zeit.

Das „Fest der Liebe“ wirft einen langen Schatten voraus.

Nicht nur einkaufstechnisch – sondern auch, was Beziehungen angeht.

Für Alleinlebende kann Weihnachten der pure Horror werden.

In Coronazeiten wird das Alleinsein, die zwischenmenschliche Distanz noch verstärkt.

Aber auch die Konflikte in den Familien und Partnerschaften.

Kein Fest ist so überfrachtet von Erwartungen nach Harmonie und Frieden wie das Weihnachtsfest.

Weihnachten kann in Stress ausarten.

 

Äußerlich versuchen wir uns einzustimmen:

Die grünen Zweige zuhause, der Weihnachtsschmuck in den Straßen und Gärten, die Christbäume – alles soll Gemütlichkeit und weihnachtliche Atmosphäre ausstrahlen.

Ich weiß nicht, ob ihr’s wisst:
Vor über 500 Jahren entstand die Tradition des Christbaums.

Der grüne Baum stand in einem Mysterienspiel für den Paradiesbaum;
und die roten Früchte daran waren das Zeichen, dass die Sünde durch diesen Baum und das Essen der verbotenen Frucht in unser Leben kam.

Ein mahnendes Zeichen also – der Christbaum.

Was haben wir draus gemacht?

Folklore; ein Zeichen dafür, dass man sich viel zu gut eingerichtet hat in dieser Welt.

Wir Christen sollen uns schon in dieser Welt einrichten, aber nicht mit dieser Welt gleich machen.

Der Christbaum mahnt uns, dass wir hier keine bleibende Heimat haben – dass wir auf dem Weg zur künftigen, ewigen Heimat sind.

 

Keine Sorge, ich will nicht predigen, dass wir alles ablehnen müssen, was um uns herum geschieht und woran wir auch unseren guten Anteil haben.

Sich freuen zu können, bewusst leben zu dürfen - die uns von Gott geschenkten Augenblicke genießen zu wollen: Das sind wichtige Zeichen der Hoffnung für uns und andere.

Gerade in trostlosen von Pandemie und anderen Krisen geprägten Zeiten ist das wichtig.

Wir sollen uns erinnern, dass wir von einer größeren Gewissheit getragen sind.

Und diese größere Gewissheit, liebe Schwestern und Brüder, besteht nicht darin, dass alles gut werden wird;
auch nicht darin, dass wir nur schön stille halten und alles an uns vorbeiziehen lassen.

Diese Gewissheit besteht darin, dass unser Herr Christus Jesus wiederkommen wird.
Er wird Gottes Recht aufrichten und seine Macht vollenden: das Reich Gottes unter uns Menschen und in uns Menschen – sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit.

Etwas, dass wir Menschen – so sehr wir uns auch anstrengen – nicht erreichen können und nicht erreichen werden.

 

Die Adventszeit lenkt unseren Blick auf Gott, auf seine Macht:
Gott kommt in unsere Welt, es beginnt eine neue Geschichte, eine neue Zeitrechnung – der Heiland bringt Gottes Heil zu uns – ich muss korrekterweise sagen: in uns.

Wenn Gott kommt, bleibt nichts unberührt.

Deswegen, liebe Schwestern und Brüder, macht unser Glaube uns unruhig.
Wir blicken durch die Lichterketten auf das wahre Licht der Welt.
Der Glaube macht uns unruhig, weil wir erkennen: die Strukturen dieser Welt bieten uns keinen verlässlichen Halt;
schaffen keinen Weg schaffen, der ohne Gefahren wäre;

keine Hoffnung, die erstrebenswert wäre.

Was dagegen ist das göttliche Licht, das uns in Christus geboren wurde?

 

Weihnachten ist das Fest der Liebe.

Der Liebe Gottes.

Der Liebe der Menschen zueinander.

Der Liebe, die nicht zu allem „Ja und Amen“ sagt.
Hauptsache Frieden – sagt man, denkt man, wünscht man sich auch innerlich irgendwie.

Aber was ist das für ein Frieden, der wichtige Probleme unter den Teppich kehrt,
der sich blenden lässt von Millionen von Lichtern,
der sich abstumpfen lässt von vorsichhindudelnder Kaufrauschmusik?

 

Unser Predigtwort von heute zeigt dies überdeutlich:

Gott zersprengt mit seiner Kraft - nichts anderes heißt der Name „Gabriel“ übersetzt: die „Kraft Gottes“ -
Gott zersprengt mit seiner Kraft die festen Vorstellungen, an die sich wir Menschen seit jeher zu halten versuchen.

Gott wirft unsere Konventionen auch mal über den Haufen!

Es steht die Geburt eines Kindes an, dessen Vater nicht der Mann ist, den Maria heiraten soll.

Verlobt sind die beiden, mehr nicht.

Wahrscheinlich waren sie nach damaliger Sitte noch gar nicht zusammengezogen, sondern jeder lebte in seinem Elternhaus.

Und bald wird es sichtbar werden: Maria ist schwanger.

Was wäre zu tun, wenn man vermeiden will, das geschieht, was nicht geschehen darf?

Maria könnte gesteinigt werden wegen Ehebruch, den sie wohl nach Meinung vieler begangen haben dürfte.

Josef könnte ihr den Scheidebrief, den Mose vorgeschrieben hat, überreichen und sie aus der Stadt jagen.

Das sind die menschlichen Vorstellungen von Ordnung und Sicherheit, die diese Welt zu brauchen scheint.

Gott aber fährt mit seiner Kraft in diese Strukturen ein und zerschmettert sie ohne Rücksicht auf unser Denken und Wollen.

Gabriel ist nicht der Engel, der mir auf Werbungen dick und niedlich entgegenlächelt.

Nein, die Kraft Gottes wirft die Muster, die wir scheinbar so sehr zum Leben brauchen, über den Haufen und spricht zu Maria: „Fürchte dich nicht - du hast Gnade bei Gott gefunden.“

 

Diese Gnade Gottes bringt Maria selbst erst einmal in große Bedrängung.

Das ist bis heute so geblieben - wem Gott begegnet, wer das Heilige seines Glaubens erfassen kann, der wird zuerst erschrecken.

Gott erreicht mit Maria aber noch mehr.

Nicht nur, dass er diese Jungfrau ein Kind austragen lässt und damit gegen alles Moralempfinden damaliger Zeit verstößt.

Er tut noch mehr: er verlässt die von der Gesellschaft vorgegebene Rangordnung: kein Mann wird je von sich behaupten können, er sei der Vater dieses Kindes.

Kein Mann, in deren Händen doch die alleinige religiöse Autorität lag, wird je sagen können: siehe, das ist mein Sohn.

Allein einer Frau steht dieses Recht zu, ihre Blutsverwandtschaft geltend zu machen.

Dabei ist es übrigens unerheblich, liebe Schwestern und Brüder, hier die Frage nach der echten, biologischen Jungfräulichkeit Marias zu erörtern.

Sie trägt nichts weiter aus, als dass wir aus Maria mehr machen, als sie ist.

Für unseren Glauben ist die Frage der Jungfrauengeburt nicht entscheidend – höchstens interessant.

Aber damit steht und fällt unser Glaube nicht.

„Bei Gott ist nichts unmöglich“ – lassen wir’s dabei.

Wichtiger ist vielmehr: Gott verlässt diese ausgetretenen Pfade,
und sein Kind - Gottes Sohn - kommt ohne männlichen, religiös notwendigen, menschlichen Vater aus – das war damals der Skandal.

Heute zucken wir höchstens noch mit den Schultern.

Kinder ohne Vater?
Ist doch längst Alltag.

Aber damals war’s alles andere als normal!

Damals bedeutete es:

Gottes Wege sind wunderbar, denn sie laufen anders als die uns bekannten:

Zählt bei uns das Große und Starke dieser Welt, so wählt Gott doch das scheinbar Kleine und Schwache.

Zählt bei uns häufig das weltliche Ansehen der Person, so schaut Gott auf unser Inneres, unser Herz.

 

Auch die Krippe zeigt uns:

Gottes kommt in erbärmlichen Verhältnissen zur Welt, nicht im Königspalast, nicht auf reichen Kissen und mit topmedizinischer Unterstützung.

Der äußerliche Schein spielt für Gott keine Rolle.

Auf unser Inneres, auf unser Herz kommt es an.

 

Daran erinnert uns eben der Christbaum:

Wir Menschen haben nun mal von dem Baum im Paradies gegessen.

Unsere Sünde besteht darin, dass wir Gott nicht als die Macht über unserem Leben anerkennen wollen;
Wir möchten selbst Chef sein, nicht Schäfchen;
Wir meinen, wir brächten keinen Hirten, der uns führt und der für uns sorgt.

Ich sag bewusst „wir“; denn auch wir Christen unterliegen immer wieder diesen Fluchttendenzen weg von Gott hin zu unserem selbstbestimmten, ach so sicheren Leben.

Wohin das führt, wissen wir aber!

 

„Tut Buße und kehrt um zu dem Gott der euch liebt und zu euch kommt“ klingt uns der Täuferruf im Ohr.
Auch, wenn es dir schwerfällt, auch wenn es dir Sorge, ja Angst macht, deine eingetretenen Pfade zu verlassen –
verlass Dich auf Gott – Bei ihm ist kein Ding unmöglich!

 

Wer das erfassen kann, liebe Schwestern und Brüder, wer das für sich zulassen kann und sprechen kann wie Maria, die uns darin ein Vorbild im Glauben sein möchte:

„Siehe, ich bin des Herrn Magd oder Diener: mir geschehe, wie du gesagt hast.“

Wer sich so beugen kann und zulassen kann, dass die Kraft Gottes auch ihm zugesagt wird, dem werden die Augen und das Herz aufgehen!

Dem wird Gott begegnen - im Schwachen und im Kranken, im Leiden und im Tode, im Armen und im Kleinen;
der wird dort erspüren, wie sich das Reich Gottes, das uns allen zugesagt ist, langsam Bahn bricht.

Wer die Gnade gefunden hat, kann auch getrost über seine Schuld sprechen.

Wer über seine Schuld sprechen kann, wird dann auch getröstet werden, frei werden, froh werden.

 

„Fürchte dich nicht! Du hast Gnade bei Gott gefunden.“

In einem befreiten Herzen kann sich die weihnachtliche Freude ausbreiten.

In diesem Sinne – einen besinnlichen Vierten Advent!

Amen.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.