24.12.2021 - Weihnacht – heiliger Zorn inklusive! Christvesper-Predigt zu Micha 5. 1-4 von Pfr. R. Koller
Micha 5, 1-4
1 Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
2 Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel.
3 Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. 4 Und er wird der Friede sein.
“I’m dreaming of a white Christmas.“ – Ja? Wirklich? Auf das Schneeschieben verzichtet so mancher doch gerne. Und auch auf den grauen Matsch an den Straßenrändern mit rutschigen Straßen.
Aber an Weihnachten… da dürfen es gerne weiße Weihnachten sein. Am besten fängt es während des Gottesdienstes an, und wenn wir dann aus der Kirche kommen, ist der Boden schon mit einer leichten weißen Schicht bedeckt und dicke Flocken sinken durch die Dunkelheit um uns herum. Man kann schon spüren, dass morgen der ganze Ort unter einer dicken Schneeschicht sein wird - wie aus Zuckerguss!
Vielleicht suchen wir ja an Weihnachten genau danach: nach Zuckerguss. Nach Weihnachtsmomenten, die es uns möglich machen, wirklich zu glauben, was heute in den Kirchen gepredigt wird: „Fürchtet euch nicht!“ – „Gott selbst ist Mensch geworden.“ – „Seine Macht der Liebe ist stärker als der Tod.“
Wir stellen Krippen auf, um uns selbst das Unglaubliche glauben zu machen: Dieses Jesuskind war Gottes Sohn unter den Menschen.
Wir zünden Kerzen an, um zu sehen, dass auch ein kleines Licht die Dunkelheit erhellen kann.
Wir backen Plätzchen, um zu schmecken, dass das Leben, das Gott sich für uns wünscht, voller köstlichem Überfluss ist.
Wir hören Musik, die besser als Worte beschreiben kann, wie der Himmel ist.
Ja, an Weihnachten sollte es schneien! Kitsch ist erlaubt, solange er zum Guten dient! Es hat Sinn, es sich schön zu machen an den Tagen, an denen wir den Grund unserer Hoffnung feiern!
Allerdings gibt es ja fast immer diesen Moment, wo einem das alles plötzlich zum Hals raushängt. Zu viel Zuckerguss macht Übelkeit.
Für diesen Moment empfehle ich das Buch des Propheten Micha! Wir haben vorhin einen Ausschnitt daraus gehört. Das räumt auf mit Zuckerguss…
- Denn wie kann man süße Plätzchen essen, wenn manche Familien – auch hier in unserem Land – nicht genug Geld haben für eine tägliche warme Mahlzeit?
- Wie kann man Kerzen anzünden, wenn Menschen ohne Elektrizität und sauberes Wasser mit ein paar Planen unter Brücken und in Wäldern hausen und ihre Kerzen längst abgebrannt sind?
Zu viel Weihnachtsharmonie kann wütend machen. Der Prophet Micha hat damals den Zuckerguss vom Weltbild der Oberschicht in Israel gekratzt! Zitat: „Noch immer bleibt unrecht Gut in des Gottlosen Hause und das verfluchte falsche Maß. Oder sollte ich unrechte Waage und falsche Gewichte im Beutel billigen?“ (Mi 6,10f.)
Fast 3000 Jahre später messen wir immer noch mit verschiedenem Maß!
Oder wie kann es sein, dass wir hier für ein T-Shirt 3,99 € bezahlen und die Näherin in Indien hat Mühe, ihre Kinder zu kleiden?!
Wir wissen, dass das nicht richtig ist, aber es ist viel zu kompliziert, etwas zu ändern. „Ihre Reichen tun viel Unrecht, ( …)“, sagt Micha (Mi 6,12). Und er sagt es drastisch: „Ihr solltet die sein, die das Recht kennen. Aber ihr hasst das Gute und liebt das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von den Knochen und fresst das Fleisch meines Volkes“ (Mi 3,1–3).
Wem die ganze Weihnachtsharmonie zu viel wird, der kann die Feier aufmischen mit solchen Worten, passend gesagt zu Braten und Klößen. Und wenn die andern abwiegeln wollen, einfach sagen: Denkt nur mal an die Spargelstecher, an die Schlachter in der Fleischindustrie, an die ausländischen Pflegekräfte und Bauarbeiter! Der Prophet Micha sagt dazu: „Ihr schindet ihnen die Haut ab.“
Und sollte am Tisch dann der Einwand kommen „aber da können wir doch nichts machen“, dann vielleicht Micha Kapitel 6 Vers 8 noch draufsetzen, wo es heißt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“
Was der Prophet Micha uns mitteilt, ist, dass Gott wütend ist! Der Prophet steht mit dieser Botschaft in einer Reihe alttestamentlicher Propheten, die letztlich bis zu Jesus reicht.
Das mag vielleicht etwas verstörend sein, das gerade an Weihnachten zu hören. Aber andererseits ist es auch gut so!
Wer kennt nicht diese mühsamen Familientreffen, wo alle krampfhaft versuchen, auf Harmonie zu machen - obwohl zwischen ihnen etwas im Argen liegt! Das ist so kräftezehrend.
Manchmal ist es besser, wenn man die Wut erst mal rauslässt. Auch, wenn das wehtut.
Gott ist wütend! Und er ist es zu Recht! Weil die Welt als ein anderer Ort gedacht war!
Eigentlich wäre ja alles da, was wir für ein glückliches Leben brauchen. Aber so viele Menschen erleben die Hölle auf Erden.
Deshalb ist Gott wütend! Er kann das nicht tolerieren. Deshalb klagt er mit den Worten des Propheten die Verantwortlichen an!
Das ist für manche heute Abend vielleicht eine beklemmende Botschaft, aber für die, die Unrecht erleiden, ist es eine sehr, sehr gute Nachricht. Gott wird Unrecht nicht tolerieren. Gott ist wütend!
Und er lässt seine Wut raus. So wird jedenfalls später die Katastrophe verstanden, die dann eintrat: als Israel, selbst nur noch ein Spielball der damaligen Großmächte, mit Krieg überzogen wurde; als zahllose Menschen starben, viele in Gefangenschaft geführt wurden, die Stadt Jerusalem zerstört wurde, der Tempel des Salomo in Rauch aufging.
Micha sieht darin die Strafe Gottes für die Vergehen der Reichen an den Armen. Sie haben sich gottlos verhalten und nun straft Gott sie, damit sie zur Vernunft kommen, denn: Gott ist gerecht!
Vielleicht ist das die Botschaft, die wir heute Abend stark machen müssen, damit uns der Zuckerguss nicht zu süß und das Fest nicht zu kitschig wird: Gott ist gerecht!
Das kleine Kind in der Krippe ist nicht auf die Welt gekommen, damit alle mal einen besinnlichen Moment haben und ihre Herzen erfrischen können – jedenfalls nicht nur dafür. Dieses kleine Kind führt uns vielmehr vor Augen, dass Gott eine gerechte Welt für uns will!
Der im Stall geborene König – das ist das Gegenbild zu Herrschern, die ihre Macht ausnutzen.
Und natürlich sehen wir im Jesuskind auch den Mann Jesus, der 30 Jahre später wütend wird, dem es immer wieder „die Eingeweide umdreht“ (so die wörtliche Übersetzung von „sich erbarmen“) angesichts so vieler Not und Ungerechtigkeit, angesichts auch so vieler Lieblosigkeit und Ichsucht unter den Menschen.
Er hat sein Leben diesem Kampf gewidmet, bis zuletzt, mit nichts anderem „bewaffnet“, als mit der ohnmächtigen Macht der Liebe. Die freilich brannte in ihm wie ein göttliches Feuer.
Weihnachten, das Fest der Liebe, sollte deshalb jedes Jahr auch der Anfang einer Revolution sein.
Tief in unseren Herzen wissen wir das. Es gibt auch heutzutage viele Gründe und, so muss man sagen, ein Recht, wütend zu sein! Einfach, weil die Welt sich nicht wirklich verändert hat und noch genauso funktioniert wie damals, als der Prophet Micha lebte.
Aber gerade deshalb lasst uns auch dieses Jahr Krippen aufstellen, Kerzen anzünden, Plätzchen backen und Musik hören! Und ja, an Weihnachten sollte es schneien! Auch Kitsch ist erlaubt, wenn es dadurch Weihnachten wird in uns!
Denn das ist es, was Weihnachten will: dass das Kind in uns geboren wird! Und mit ihm die heilige Wut des lebendigen Christus über alle Ungerechtigkeit in dieser Welt!
Ja, lasst uns an Weihnachten gut zueinander sein. Lasst uns einander lieben und füreinander sorgen, lasst uns gut essen und einander Geschenke machen!
Aber lassen wir uns auch von dem göttlichen Zorn über alle Ungerechtigkeit anrühren! Denn sowenig der gerechte Gott sich abfindet mit dem vielen Unrecht in dieser Welt, sowenig sollen wir uns damit abfinden!
So möge der, dessen Geburtstag wir heute feiern, das Feuer der Liebe in uns entflammen, auf dass auch wir uns auf den Weg machen, den er uns vorausgegangen ist.