02.01.2022 - Ein Gott zum Anfassen!? - Predigt am 1. Sonntag der Weihnachtszeit zu 1.Joh. 1. 1-4 vonPfarrer R. Koller

1.Joh. 1. 1-4:

[1] Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens - [2] und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -, [3] was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. [4] Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

 

Aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott ... Unzählige Male wurde dieses sogenannte Nizänische Glaubensbekenntnis vertont. Und immer ist es eine Stelle! Eine Stelle, an der die Musik fast ins Unhörbare entschwindet. Die Stelle, an der das Wort und die Töne leise werden, damit das Geheimnis groß wird: „Et incarnatus est“ - „Und ist Mensch geworden“.

 

Das sagt sich leise und leicht. Und ist doch einer der geheimnisvollsten Sätze auf Erden. Gott von Gott, Licht vom Licht - und ist Mensch geworden!

Also ein Gott zum Anfassen? Gott - gehört, gesehen, betastet - wie ein Patient in der Physiotherapie?

 

Hören und sehen können wir in Zeiten medialer Kommunikation so gut wie alle Zeitgenossen, berühmte und weniger berühmte: Herrn Müller, Frau Meier und, wer will, auch Kanzler Scholz ... ein Knopfdruck genügt. Und schon haben wir sie bei uns auf dem Bildschirm. Wir können sie sehen ...

... und hören. Was uns Protestanten besonders entgegenkommt. Wir sind ja Ohrenmenschen durch und durch. Böse Zungen behaupten, wir seien nur mit einem einzigen Sinnesorgan auf die Welt gekommen: den Ohren. Großen Ohren. Wenn es gutgeht, nicht nur am Kopf angewachsen, sondern mit Sitz auch am Herzen: Herzohren. Und das ist ja dann ganz in Ordnung. Als sich der Himmel auftat über dem Gottessohn, war, so die ersten 3 Evangelien, die Stimme aus der Wolke zu vernehmen: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (Mt. 17,5).

 

Und das Sehen? Protestanten, sosehr sie auch „das Wort“ beschwören, freuen sich ganz selbstverständlich, dass es zu den meisten Worten inzwischen auch Bilder gibt. Da spitzt unser Herz nicht nur die Ohren, sondern es macht längst auch große Augen: „Und ist Mensch geworden.“

Ja, beim Menschen Jesus gab es etwas zu sehen.

Und beim Auferstandenen auch. Als er seinen Jüngern erschien, da wurden sie, heißt es im Johannes-Evangelium, „froh, dass sie den Herrn sahen“ (Joh. 20,20).

Einerseits.

Und doch schärfte derselbe Herr ihnen und uns Christen bis heute ein: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh. 20,29).

 

Hören und Sehen - schon im rein menschlichen Bereich ist das ja so eindeutig nicht: Eltern können zu ihren Kindern viel sagen - ob die aber auch wirklich hören, bleibt dahingestellt. Und Kinder können viel sehen, was es zu tun gäbe - was noch lange nicht heißt, dass sie ihr Zimmer wirklich aufräumen.

Umso mehr gilt das, wenn es darum geht, den Mensch gewordenen Gott zu hören und zu sehen!

Jesus selbst ist da Realist gewesen. Sein hartes Wort gilt freilich nicht den Kindern, sondern den Erwachsenen: „Mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht“ (Mt. 13,13).

Ja, so ist das! Wenn Gott auf den Plan tritt, kann einem schon mal Hören und Sehen vergehen.

 

Ihn, Gott, haben wir nicht nur gehört und gesehen, sondern auch betastet - sagt der erste Johannesbrief. Also ein Gott zum Anfassen?

Beim Tasten ist es anders als beim Hören und Sehen. Tasten ist nicht übertragbar, nicht im Fernsehen, nicht im Internet. Betasten - das erfordert, dass der andere Mensch da ist, leibhaftig da, mit mir zur selben Zeit in ein und demselben Raum. Betasten - das signalisiert größtmögliche Nähe, Empfindungen auf der Haut, hoffentlich wohltuende und nicht schmerzliche.

Liebe geht nicht nur durch den Magen. Sie tastet sich zum anderen vor. Liebe geht über die körperliche Berührung und dann womöglich auch unter die Haut. Tasten geschieht aus nächster Nähe oder gar nicht.

Dass der Mensch Jesus andere Menschen berührte, steht außer Frage. Und dass er berührt wurde, ebenso. Die kranke Frau weiß um die Kraft der Berührung: „Könnte ich nur sein Gewand berühren, so würde ich gesund“ (Mt. 9,21).

Ein Gott zum Anfassen?

 

Auch der auferstandene Herr lässt sich berühren. Dem Thomas kann er die Berührung regelrecht verordnen: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite!“ (Joh. 20,27).

Wirklich ein Gott zum Anfassen?

 

Die Sache mit dem Anfassen kann nämlich auch ganz anders sein.

Der schönste Morgen der Weltgeschichte: Ostern! Noch liegt der Tag in der Dämmerung verborgen. Nacht und Tag halten sich für ein paar zögernde Momente die Waage. Maria von Magdala sieht einen Mann, hält ihn für den Gärtner. Und weiß plötzlich: „Rabbuni! Meister!“ Sie eilt auf ihn zu, will tun, was das Herz sagt. Er aber: „Rühre mich nicht an!“ (Joh. 20,16f.).

Vielleicht ist Gott doch nicht so einfach ein Gott zum Anfassen? Und der erste Johannesbrief zu euphorisch? Gehört, gesehen, betastet?

 

In allen Fällen aber: näher als gedacht!

 

Näher als gedacht…- Dazu ist mir eine Sendung mit Maybrit Illner wieder eingefallen, schon länger her, aber mir eindrücklich im Gedächtnis geblieben. Es ging um einen Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Zu Gast war u.a. der eigenwillige CDU-Mann und Buchautor Jürgen Todenhöfer. Er vertrat, sichtbar erregt, die Auffassung, ein Angriff, bei dem Zivilisten ums Leben gekommen seien, könne niemals als „angemessen“ qualifiziert werden: „Der Verteidigungsminister würde“, sagte Todenhöfer und sah ins Publikum und in die Kamera, „der Verteidigungsminister würde, wenn man ihn eindringlich fragte, sicher auch eingestehen ...“ „Entschuldigen Sie“, die Kamera machte einen Schwenk, „entschuldigen Sie, aber warum lassen Sie mich nicht selber sagen, was ich denke?“ Neben Todenhöfer saß der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg höchstpersönlich und meldete sich höflich zu Wort. Er fand es grotesk, dass da über ihn geredet wurde. Über ihn, als ob er irgendwo auf dieser Welt sei, bloß nicht hier, im Raum, gleich auf dem Platz daneben.

 

Sicher, ein Minister ist nicht Gott. Aber beide sind scheinbar leicht zu übersehen!

 

Der Minister war da, aber gerade mal bis zum Ende der Talkshow. Gott, der Herr, ist, was wir von keinem Minister hoffen, da „bis an der Welt Ende“ (Mt. 28,20).

Der Minister ist zu sehen, zu hören und, prinzipiell jedenfalls, auch anzufassen. Aber „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist ...“ - das würde ich niemals zu einem Minister sagen.

Der Minister ist vorzugsweise da, wo Hunderttausende zugeschaltet sind. Der Herr Christus ist selbstverständlich auch da, „wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen“ (Mt. 18,20).

Ein Minister ist vorzugsweise zur besten Sendezeit da. Der Herr Christus ist auch um 9.30/11 Uhr morgens da, am Sonntag, wenn die meisten Jalousien noch unten sind.

Gott, der Herr, ist da. Nicht nur im Gottesdienst. Aber da auch. Mitten unter uns.

Gott, der im Anfang war, vor aller Zeit, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist nahe. Ist näher. Ist näher als gedacht. Denn Gott, unser Vater im Himmel, ist Mensch geworden!

Halleluja!