30.01.2022 - "Grenzen überschreiten" - Predigt am Letzten Sonntag nach Epiphanias zu 2.Mose 3,1-14 (Pfr. Fischer)

Predigtabschnitt: 2.Mose 3,1-14:
1Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. 2Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. 3Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. 4Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich.
5Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! 6Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. 7Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. 8Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. 9Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Drangsal gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, 10so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst. 11Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten? 12Er sprach: Ich will mit dir sein. Und das soll dir das Zeichen sein, dass ich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführt hast, werdet ihr Gott dienen auf diesem Berge. 13Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name? Was soll ich ihnen sagen?
14Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Gemeinde,
Grenzen überschreiten.
Das war das kirchliche Thema in dieser Woche.
Das Gutachten über die Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche sind eine Art Grenzüberschreitung, die einfach nur abstoßen.
Mir wird schlecht dabei, wenn ich mir vorstelle, was Schutzbefohlenen angetan wurde und wie Kollegen ihr Vertrauen als Pfarrer zum Missbrauch missbraucht haben.
Und mir wird übel, wie im Namen Gottes mit dieser unerträglichen Schuldlast umgegangen, wie das Evangelium von der Liebe Gottes pervertiert und in den Schmutz getreten wird.
Der Schaden ist noch nicht absehbar, aber er wird riesig sein - ich befürchte, leider auch für uns.

 

Ausprobieren, wie weit man gehen kann.
Was für die Entwicklung Jugendlicher normal ist, war für Erwachsene nicht tabu.
Das Austesten, wie weit man gehen kann, gehört zum Erwachsenwerden dazu – und auch parallel das Lernen, das ich für meine Grenzüberschreitungen die Verantwortung zu tragen habe.
„Was wird passieren, wenn ich weitergehe als erlaubt?“
„Werde ich daran gehindert oder bestraft oder bringt es mich weiter, wenn ich Grenzen überschreite, Gefahren und Widerstände in Kauf nehme?“, so fragen sich Jugendliche und testen ihre eigenen Kräfte.
Wie gesagt – für Jugendliche normal – für Erwachsene in verantwortungsvoller Position tabu!
Es gibt Grenzen, die sind klar definiert – Bereiche, die uns heilig sein müssen; da gibt es keine Diskussion: Fingerweg von Kindern und Jugendlichen, sonst Amt und Würden weg – ganz klar.

 

Grenzen überschreiten.
Ausprobieren, wie weit man gehen kann – das ist dann auch nicht nur die Sache von jungen Menschen in der Pubertät und Adoleszenz.
Zu jeder Zeit des Lebens kann es Situationen geben, in denen die Tabuzonen nicht klar gezogen sind; wo es abzuwägen gilt, wie ich mich entscheide und wie ich mich dann verhalte.
Grenzen überschreiten - für den einen bleibt es dann ein heimlich formulierter Wunsch, der nie umgesetzt wird;
für andere kommt es zum Wagnis, das eingegangen und mit allen Konsequenzen in Kauf genommen wird.

 

„Wie weit kann ich gehen?“
Ich weiß nicht, ob Mose, von dem ich jetzt erzählen möchte, diese Frage direkt so gestellt hat.
Aber er war von Natur aus neugierig, hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und wollte die Welt verändern.
Manchmal hat ihn auch mal seine eigene Wut übermannt.
In jungen Jahren war er einmal gründlich übers Ziel hinausgeschossen.
Er hatte sich selbst überschätzt und war gescheitert.
Warum musste er sich auch einmischen?
Wäre er nur still geblieben, als ein ägyptischer Aufseher seinen hebräischen Landsmann, der als Sklave an den neuen Prachtbauten des Pharao arbeiten musste, fast erschlagen hätte!
Aber nein, er musste sich einmischen; Grenzüberschreitung: Er tötete den Ägypter.
Wie gern hätte er seine Tat ungeschehen gemacht oder wenigstens vertuscht.
Doch schnell stellte sich heraus, dass er gesehen wurde.
Unter seinen eigenen Leuten gab es Augenzeugen, die Mose verrieten.
Es drohten ihm rechtliche Folgen für seine Tat.
Da sah er keinen anderen Ausweg, als zu fliehen.
Schlimm war das damals.
Über die Zeit seiner Flucht dachte Mose nicht gern nach.
Wie viele Hoffnungen waren dadurch zerstört worden.
Er, der als Kind von der Tochter des Pharaos gefunden und mit nach Hause genommen worden war, hätte es in Ägypten zu etwas bringen können.
Es lebte sich gut am Königshof von Ägypten.
Er brauchte sich um nichts zu sorgen und hatte viele Privilegien.
Warum hatte er sich auch hinreißen lassen und eingegriffen?

 

Da war ihm die Erinnerung an die folgende Zeit schon lieber, wie er seine Frau Zippora kennenlernte und heiratete; sie war die Tochter Jitros, des Priesters in Midian.
Er liebte sie, ja.
Aber was war aus ihm geworden?
Zum Schafhirten bei seinem Schwiegervater hatte er es gebracht.
Ja, es war gut, dass erst einmal wieder Ruhe in seinem Leben eingekehrt war.
Er war auch gern draußen in der Natur bei den Tieren.
Aber manchmal fragte er sich: „Ob das jetzt alles ist?“
Den einzigen Sohn, den seine Frau ihm geboren hatte, hatte er „Gerschom“ genannt, „Gast der Öde“ lässt sich das übersetzen.
Manchmal fragte Mose sich, ob sich in ihm seine eigene Öde und Verlorenheit widerspiegelte.

 

Eines Tages, als er darüber nachdachte, merkte er plötzlich, dass er gerade wieder eine Grenze überschritten hatte, diesmal eine geographische.
Er war über die Steppe hinausgegangen und ließ den Ort hinter sich, den er wie seine eigene Westentasche kannte.

Auch diese Grenzüberschreitung hatte Folgen.
Ja, sie veränderte sein ganzes Leben.
Am Berg Horeb sah er diesen brennenden Dornbusch, der auf wundersame Weise brannte und doch nicht verbrannte.

Und er fand Gott selbst darin, der ihm begegnete und ihn zu Großem berufen wollte.
Gott will das Volk Israel aus Ägypten in das Land führen, wo Milch und Honig fließen.
Und dazu will er Mose gebrauchen.

 

Mich hat das Bild vom brennenden Dornbusch schon immer fasziniert.
Lange wusste ich nicht, warum.
Inzwischen kann ich es mir erklären: In diesem Bild wird deutlich, dass Gott einen Menschen, der gescheitert ist, nicht fallen lässt.
Gott fängt ihn auf und kann ihn brauchen.
Er traut ihm eine große Aufgabe zu und überträgt ihm diese Verantwortung.

 

Der Dornbusch gilt für die Israeliten eigentlich als wertlos, unbrauchbar, als trockenes Kraut am Rand der Wüste.
Er steht für alles Gescheiterte.
Er steht sowohl für Israels Not in Ägypten als auch für Mose, der aus eigener Kraft das Volk retten wollte und in seinem Zorn Unrecht begangen hatte, indem er einen Ägypter erschlug, fliehen und seitdem in der Fremde leben musste.

Der Dornbusch kann dann auch ein Bild sein für das Verdorrte und Verachtete in uns,
ein Bild für das Gescheiterte und Verwundete in mir.
Ausgerechnet in ihm schaut er die Herrlichkeit Gottes und Gott spricht zu Mose.
Und es vollzieht sich das Geheimnis der Menschwerdung.
Gott ist wie eine Flamme, die aus dem Dornbusch emporschlägt und ihn doch nicht verbrennt.
Gerade in Moses schwacher Seite wird Gott sichtbar.
Auch in meinen Wunden will Gott aufleuchten.
Er verwandelt das Öde und Leere, das Gescheiterte und Verletzte und Ausgebrannte in uns zum Ort seiner Gegenwart.
Der Dornbusch bleibt Dornbusch, aber Gottes Licht, ja, seine Anwesenheit selbst ist es, die ihn anders aussehen lässt.

 

Das Bild vom brennenden Dornbusch öffnet mir meine Augen für den Glauben.
Wenn ich sehe, wie Gott im Gescheiterten anwesend ist, wie er darin aufleuchtet, wenn ich sehe, wie er eine menschliche Krise verwandeln und etwas Neues entstehen lassen kann, dann tröstet mich das ungemein.
Ja, Gott hat Möglichkeiten, wo unsere Wege zu Ende scheinen.
Gott traut uns viel zu, wo wir das gar nicht erwarten würden.
Er lässt Kräfte in uns wachsen, die wir bisher nicht hatten.
Und er gebraucht uns in und mit unseren Unzulänglichkeiten zur Vollendung seiner Heilsgeschichte.
Gerade in meinem Schwachsein will Gott aufleuchten und brauchen, was mir unbrauchbar scheint.
So, wie ich bin, nimmt er mich in seinen Dienst.

 

Gott begegnet Mose am brennenden Dornbusch, indem er ihm sein eigenes Leben, seine Grenzüberschreitungen, die ins Unglück und zum Scheitern führten, vorhält.

Überraschend ist, wie aus der menschlichen Krise ein Neuanfang wird.
Gott hat einen Auftrag für Mose.
Er beruft ihn zu Grenzüberschreitungen in seinem Namen und nach seiner Weisung.
Er soll für das Volk Israel zum Befreier aus der Gefangenschaft Ägyptens werden.

 

Hier am Dornbusch, in Gottes Herrlichkeit, hat Mose seine eigene Schwäche angenommen und erkannt, dass nur Gott ihn zu solch einer großen Aufgabe befähigen kann.
„Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“
Aus dieser Frage spricht der, der von solch einer Aufgabe menschlich gesehen völlig überfordert ist.
Da ist die große Aufgabe, die auf ihn wartet – da ist aber auch die übergroße Schuld, die auf ihm lastet.
Beides muss getragen werden.
Gott ruft uns in die Verantwortung.
Beides kann getragen werden – in voller Verantwortung vor Gott und in voller Verantwortung vor den Opfern!

 

Nur so und erst dann ist ein Neuanfang möglich.
Nur so können Grenzverletzungen gesühnt und vielleicht auch irgendwann vergeben werden.
Mose kann mit Gott den Auftrag annehmen.
Gott selbst steht mit seinem Namen ein:
Ich bin, der ich bin. Ich bin treu!

Der Rest ist Geschichte: Gott führt sein Volk in die Freiheit. Moses wird selbst zu einem Begleiter für andere auf diesem schwierigen Weg in die Freiheit.

 

Das gilt auch uns:
Wo wir an unsere Grenzen stoßen, ist Gott noch lange nicht mit uns fertig.
Es kann neu werden, anders – aber mit neu mit Feuer und Glut im Herzen.
Lassen wir uns ganz und gar auf Gott ein und lassen wir es zu – in Verantwortung vor Gott uns unserem Mitmenschen.
Gottes Liebe wird uns füllen.
Sein Geist wird uns leiten,
und uns als seine Gemeinde wird er tragen.
In Jesu Namen.
Amen.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.