10.04.2022 - „Ewiges Leben“ - Predigt zu Joh. 17, 1-8 am Palmsonntag von Pfarrer R. Koller

Die Geschichte von „Jesu Einzug in Jerusalem“ wird sowohl am Beginn der Adventszeit, als auch heute zum Auftakt der Karwoche als Evangelium gelesen. Advent ist eine Buß- und Vorbereitungszeit wie die Passionszeit vor Ostern, aber gefühlsmäßig beginnt für uns mit dem Advent eher die Zeit der Vorfreude auf Weihnachten: Gott selber wird Mensch in einem hilflos-kleinen Kind!
Palmsonntag dagegen ist der Anfang vom Ende! Mit dem heutigen Sonntag erinnern wir uns der letzten leidvollen Lebenstage Jesu hier auf Erden.
Was haben beide, Freud und Leid im Angesicht Jesu, miteinander zu tun? Sind es nicht vielmehr unvereinbare Gegensätze, gerade dann, wenn wir auf unser eigenes Leben blicken?

Als Jesus nach Jerusalem kommt, rufen ihm die Menschen ihr begeistertes „Hosianna“ zu. „Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes!“ Es ist nicht nur der Glanz einer berühmten Persönlichkeit, Publicity und Starglamour, der sie anzieht. Ich glaube, sie freuen sich wirklich auf Jesus, von dem sie schon so viel Gutes gehört haben. Seine Predigten und seine Heilungswunder haben Herz und Seele vieler Menschen berührt. Die Auferweckung des Lazarus ließ kühnste Träume und Hoffnungen zu: Ein Ende von Not, Leid und Elend! Die Erwartung war da, dass er der mit Gottes Geist Gesalbte sei, der Messias, vergleichbar nur mit dem einzigartigen König David.

Doch der Hoffnungsträger unzähliger Erwartungen präsentiert sich merkwürdig ohnmächtig und schwach: ein König - auf einem Esel? Ein Weiser auf einem Narrentier? Einer auf dem Gipfel seiner Macht macht sich lächerlich. Er gibt ein irritierendes Schauspiel vor den Augen der Menge. Jetzt laufen sie ihm freilich noch nach. Jetzt läge es in seiner Hand, die Massen zu bewegen, wohin er will. Seine Stunde ist da!
Aber nur er weiß, dass es nicht die Stunde des Triumphs werden wird, vielmehr die Stunde der Entscheidung!
Nämlich die Stunde der letztgültigen Offenbarung, dass Gott so ganz anders ist, als wir Menschen uns vorstellen! Ja, Gott selbst kennt Schmerz! Er leidet mit an den unleidlichen Zuständen dieser Welt. Und er kämpft mit nichts anderem, als der ohnmächtigen Macht der Liebe!

In den Augen der Menschen freilich gibt Jesus die Gunst der Stunde preis, seine Chance zur „Machtergreifung“. Heute am Palmsonntag jubelt man ihm noch zu. Doch in wenigen Tagen, an Karfreitag, wird er unbarmherzig getötet. Ein Unschuldiger wird gefoltert und grausam hingerichtet.
Und wenn wir uns heute an dieses besondere Geschehen erinnern, dann stehen uns noch viele andere Kreuze vor Augen: die Kreuze der Kriegsopfer in der Ukraine, Kreuze auf unseren Friedhöfen, aber auch unsichtbare Kreuze persönlicher Schuld, und eigenen Versagens, an denen wir zu tragen haben.

Angesichts des einen und unzähliger weiterer Kreuze tun sich Abgründe auf: an Schmerz und Hilflosigkeit, an Auflehnung und Zorn. Warum kann es nicht ein Leben ohne Kreuze, ohne Leiden geben?! Warum liegen Hoffnung und Verzweiflung oft so dicht beieinander?

Auch für Jesus schlägt die Stunde, in der sich Tod und Abschied wie übermächtig in sein Leben drängen. Während die Menge ihn noch mit jubelnden Hosiannarufen vor den Toren Jerusalems feiert und Palmenzweige als Siegessymbole vor ihm ausbreitet, ballen sich die dunklen Wolken tödlicher Verschwörung über ihm zusammen. So eng verbunden liegt beides beieinander: der Gipfel der Begeisterung und der Sturz in tiefste Verlassenheit, helle Freude und düsterer Schmerz bis in den Tod.
Jesus ergeht es genau wie uns Menschen und zugleich doch ganz anders. Er geht seinen Weg freiwillig und im vollen Bewusstsein dessen, was vor ihm liegt, und was sein Auftrag ist. Was ihm widerfährt, lässt ihn nach außen hin ohnmächtig erscheinen. Doch an keiner Stelle seiner Leidensgeschichte lässt er sich tatsächlich das Gesetz des Handelns aus der Hand nehmen: Weder im Garten Gethsemane, als Petrus durch Waffeneinsatz seine Verhaftung verhindern wollte, noch als die Ankläger ihn mit dem Schein des Rechts befragen und verurteilen. Kein Erstarren angesichts einschüchternder Folter, kein Verstummen aus Angst um sein Leben. In seinem offenen Reden und souveränen Handeln bleibt er Gottes Auftrag und sich selber treu. Sein Körper wird gebrochen, doch sein Geist bleibt frei. Und gerade darin offenbart er die ohnmächtige Erbärmlichkeit der sogenannten Mächtigen.

Der Evangelist Johannes schreibt sein Evangelium zu einer Zeit, in der die christlichen Gemeinden immer mehr die Erfahrung von schlimmen Verfolgungen machen mussten. Offiziell ausgestoßen von der jüdischen Gemeinschaft verloren Christen den Status einer „erlaubten Religion“ im römischen Reich.
Um mit dieser existentiellen Bedrohung überhaupt umgehen zu können, zeichnet Johannes für seine Mitchristen das Bild des noch im Sterben siegreichen Christus! Um so allen vor Augen zu führen, dass allein das Vertrauen auf ihn, den Christus, allem Leid - ja, selbst dem Tod - die letzte Macht absprechen kann!

Mitten in dieser Schilderung hält Johannes dann plötzlich inne und lässt uns teilhaben an einem einsamen Zwiegespräch, dem sogenannten „hohepriesterlichen Gebet“. Jesus betet zu Gott – an der Schwelle zwischen Leben und Tod.

 

Hören wir den Anfang dieses Gebets wie es im 17. Kapitel seines Evangeliums geschrieben steht:
1 So redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche;
2 denn du hast ihm Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast.
3 Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.
4 Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue.
5 Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt.
7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt.
8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

"Vater, die Stunde ist da!“ Jesus geht in den Tod. Er hat Abschied genommen von seinen Freunden. Was jetzt noch zu sagen ist, sagt er Gott. Dankend blickt er zurück auf seinen Lebensweg und zugleich bittend für jene, die ihm von Gott ans Herz gelegt wurden. Er zieht ein Resümee seines Lebens, das er zum Schluss mit seinem letzten Wort am Kreuz bestätigt: „Es ist vollbracht!“ (Joh. 19, 30) Seine Aufgabe ist erfüllt. In seiner Person ist Gottes Herrlichkeit erkennbar und anschaulich geworden. In seinem Reden und Handeln hat sich gezeigt, wie der lebendige Gott selber ist, und wie er uns Menschen begegnet. „Gottes Herrlichkeit“ meint so etwas wie das Licht, der Glanz der Gegenwart Gottes mitten in seiner Schöpfung und mitten unter seinen Geschöpfen, sogar (oder erst recht) dann, wenn sie leiden.
Wenn Jesus bittet „verherrliche deinen Sohn“, dann bittet er um Gottes Nähe in der Finsternis seines bevorstehenden Todes. Wenn Jesus betet „Sei mir ein Lichtglanz, selbst in der dunkelsten Stunde“, dann macht das Mut zum eigenen Gebet. Dann macht das Mut zum Glauben, dass immer dort, wo Menschen und andere Geschöpfe Gottes leiden, Gott nicht fern ist. Er steht nicht „darüber“, sondern im Gegenteil: Gott steckt mittendrin. Er leidet mit!

Ich denke an eine Geschichte, die Elli Wiesel aus dem KZ Auschwitz erzählt. Eine furchtbare Geschichte und dennoch nur ein Beispiel für menschliche Grausamkeit und menschliches Leiden, wie wir sie heute wieder sehen:
Die SS erhängte zwei jüdische Männer und einen Jungen vor der versammelten Lagermannschaft. Die Männer starben rasch, aber der Todeskampf des Jungen dauerte eine halbe Stunde. Wo ist hier Gott? Wurde Elli Wiesel von einem Menschen neben ihm gefragt. Er wagte nicht zu antworten. Als nach endlos langer Zeit, der Junge sich immer noch am Strick quälte, hörte Elli Wiesel die Stimme wieder: Wo ist Gott jetzt? Und mit einem Mal wusste er die Antwort: Hier ist er! Gott selber hängt dort am Galgen...

 

Gott selbst hängt dort am Galgen! Nirgendwo anders kommt Gott den Menschen so nahe, wie in ihren tiefsten Ohnmachts- und Leidenserfahrungen. Nicht, weil er das Leiden will, sondern weil wir ihn dort am dringendsten brauchen. Auf den Gesichtern der Geschundenen liegt ein Glanz aus Gottes Herrlichkeit, der ihnen ihre Würde wiedergibt.

Erfahrungen von Leiden, von Schuld und Todesbedrohung bleiben - mehr oder weniger - niemanden in diesem Leben erspart. Aber erst die Erkenntnis, dass Gott auch darin mitten unter uns ist, schafft den Mut, die Augen vor der Realität nicht zu verschließen.
Und nur so ist volles, ganzes, ja erfülltes Leben möglich! Der Evangelist Johannes definiert es als „ewiges Leben“: den wahren, die Welt liebenden Gott erkennen! Gott schauen mit den Augen eines Kindes - voller Vertrauen und in der Gewissheit, dass uns nichts trennen kann von Gottes Liebe, nicht einmal der Tod!

Jesus hat uns von Gott erzählt und beispielhaft gezeigt, wie Gott mit uns umgehen will: Als er die Kinder segnete, die andere von ihm fernhalten wollten. Als er Menschen von ihrer Schuld entlastete, ihre Lähmungen aufhob und ihnen die Augen öffnete. Das ist ewiges Leben! Nicht abstrakt, unbegrenzt und fern von dieser Welt, sondern mittendrin. „Ewiges Leben“ beginnt dort, wo wir uns von Christus an die Hand nehmen lassen, wo Anfang und Ende des Lebens zusammenkommen, wo wir unsere Mitte wiederfinden!
Und wo wir uns vom Leid nicht überwältigen, sondern hindurchhelfen lassen. Denn dazu ist der Christus gekommen – uns und aller Welt zum Heil!