03.07.2022 - "Lasst euch versöhnen in den Armen des himmlichen Vaters" - Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis zu Lukas 15,1-3.11b-32 (Pfr. Fischer)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 15. Kapitel, die Verse 1-3 und 11-32:
(1) Es nahten sich Jesus allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
(2) Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sündern an und isst mit ihnen.
(3) Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
(11b) Ein Mensch hatte zwei Söhne.
(12) Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.
Und er teilte Hab und Gut unter sie.
(13) Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
(14) Als er nun all das Seine verbracht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben
(15) und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
(16) Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
(17) Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger!
(18) Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
(19) Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
(20) Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
(21) Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
(22) Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße
(23) und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein!
(24) Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.
(25) Aber der älteste Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen
(26) und rief zu sich einen der Knechte, und fragte, was das wäre.
(27) Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder hat.
(28) Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
(29) Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.
(30) Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.
(31) Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.
(32) Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.
Liebe Gemeinde,
das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ - wohl eine der bekanntesten Geschichten und für mich auch eine der schönsten Geschichten der Bibel.
Die vergisst man nicht.
Sie erschließt sich mir immer wieder anders und neu.
Woran das liegt?
Ich denke, weil uns die Figuren dieser Geschichte ansprechen.
Wir erkennen uns wieder in den beiden Söhnen, ihre Lebenseinstellung hat etwas mit unserem Leben zu tun.
Da ist zunächst der jüngere Sohn: der Ungeduldige, ein bisschen Leichtsinnige; er will etwas unternehmen; raus aus der Kindheit, aus der Jugend; raus aus dem alltäglichen Trott von Arbeit und Pflichterfüllung.
Er ist es leid, zu Hause zu bleiben, vielleicht immer nur die zweite Rolle zu spielen.
Das tägliche Einerlei geht ihm auf die Nerven.
Er will hinaus in die Welt, etwas anderes, etwas Neues erleben.
Der jüngere Sohn fordert sein Erbe und er bekommt es – was mich immer schon erstaunt hat.
Der Vater lässt ihn; er schenkt ihm diese Freiheit; auch die Freiheit, Fehler zu machen.
Vermutlich können wir uns gut in den jüngeren Sohn hineinversetzen.
Wir können seinen Drang verstehen, sich auf den eigenen Weg machen zu wollen, selbstständig und unabhängig werden zu wollen.
Machen wir uns mit ihm auf den Weg.
Welches Erbe haben wir mitgenommen?
Da ist die Welt mit ihren Schätzen, mit Wasser, Luft und Erde.
Da ist unser christliches Erbe: der Glaube, die Hoffnung, die Liebe.
Und da ist unser Körper, unser Geist; da sind unsere Fähigkeiten.
Der jüngere Sohn gibt sein Erbe mit vollen Händen aus: das Leben genießen, feiern und fröhlich sein.
Immer da sein, wo es etwas zu erleben gibt: „Ich will Spaß – ich geb Gas!“
Gelegentlich lässt sich die innere Stimme hören, die sagt: „Das kann doch nicht immer so weiter gehen...“; aber diese Stimme ist schnell übertönt durch den Spaß, das Lachen der Freunde, der Frauen...
„Was kostet die Welt?“
Ach, sie kostet mehr, als der Jüngere gedacht hat.
Sie kostet das Glück, beinahe das Leben: Schon wird das Geld knapp, ist das Erbe verbraucht.
Schon ist der Spaß vorbei.
Eine Katastrophe folgt der anderen, bis der Jüngere bei den Schweinen landet - Endstation - tiefer geht es nicht.
Geht es uns ähnlich wie ihm?
Sind wir dabei, unser Erbe zu verspielen, die Welt mit ihren Schätzen zu zerstören?
Sauberes Wasser, gute Luft, fruchtbarer Boden - was werden wir an unsere Kinder und Enkel weitergeben?
Glaube, Liebe, Hoffnung - ein kostbares Erbe, das Gott uns Christen mitgegeben hat.
Ich fürchte manchmal, wir verlieren ihn aus den Augen, weil es uns vor den Augen flimmert: Es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu erleben, zu hören, dass oft nur noch ein Flimmern, ein Rauschen bleibt.
Was ist da noch von der Mitte des Lebens zu spüren?
Und wir müssen uns alle auch fragen lassen, wie wir mit unserem ganz persönlichen Erbe umgehen?
Wie gehe ich mit meinem Körper um?
Mit meinem Geist?
Mit meinen Talenten?
Tief gesunken ist der junge Mann, der vor kurzem noch mit dem reichen Erbe in den Taschen den väterlichen Hof verließ.
Nach einem Leben in Saus und Braus findet er sich am Schweinetrog wieder.
Ist das nun alles gewesen?
Wie gewonnen, so zerronnen - und am Ende ein paar Schoten aus dem Schweinetrog?
Da fasst er den Entschluss: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“
Etwas Besseres als der Tod ist das Leben als Tagelöhner allemal.
So zieht er also los, zurück zum Vater.
Schon von Ferne sieht der ihn kommen.
Er läuft ihm mit weit geöffneten Armen entgegen.
Er drückt ihn an sich, er küsst ihn, noch bevor der Sohn seine Entschuldigung stammeln kann.
Er lässt ihn neu einkleiden und organisiert das große Fest.
Und wir? Bleiben wir in der Fremde?
Haben wir es uns vielleicht längst gut eingerichtet am Trog unter den Schweinen?
Wir konsumieren endlose Mengen wertloser Schoten, stopfen uns voll bis zur Schmerzgrenze.
Doch der Hunger bleibt.
Täuschen wir uns so vielleicht darüber hinweg, dass das Erbe längst verspielt ist?
Ich hoffe, uns fällt ein, wo wir hingehen sollen.
Hoffentlich bleiben wir nicht sitzen und schauen mit sehnsuchtsvollem Blick dem jüngeren Sohn nach, der sich aufmacht und zu seinem Vater geht.
Mit offenen Armen wird er empfangen.
Der Vater kommt ihm entgegen.
Gott wartet auch auf uns.
Lasst uns aufmachen!
Doch die Welt wäre nicht unsere Welt, wenn es so einfach ginge!
Jesus weiß das und erzählt von dem anderen Sohn, dem Älteren.
Auch bei ihm kommt mir einiges vertraut vor.
Der ältere Sohn ist ein Pflichtmensch, einer, der für Ordnung ist, für Anstand und Beständigkeit, nach dem Motto: „Üb immer Treu und Redlichkeit“.
Einer, der sich selbst auch nichts gönnt.
Rechtschaffend, verantwortlich, treu, brav, vielleicht auch ein bisschen langweilig.
Er ist bescheiden und bemüht.
Er hat sich und sein Leben unter Kontrolle.
Er plant seine Zukunft.
Auch das kann ich alles gut verstehen; auch da kann ich mich wiederfinden.
Also: Die Pflicht ruft!
Gehen wir mit ihm aufs Feld, an die Arbeit.
Tag für Tag dasselbe.
Im Haushalt, im Büro, in der Werkstatt, im Geschäft, in der Schule, im Pfarramt.
Und so vergeht die Zeit.
Lebenszeit verrinnt.
Meistens merkt er das kaum.
Höchstens mal am Jahresende oder am Geburtstag.
Oder dann, wenn er sich das Leben anderer anschaut.
Oder an dem Tag, als der Jüngere nach Hause kommt.
Der andere, der Taugenichts, der Tunichtgut, der aber doch schon wieder auf die Füße gefallen ist.
Wenn der Ältere anfängt zu vergleichen, dann kommt in ihm dieses Gefühl hoch, zu kurz zu kommen.
Dann nagt der Neid an ihm, die Verbitterung:
„Ja, die Welt ist ungerecht.“
Weil er das alles nicht hatte; weil er darauf verzichtet hat.
Wie kann er da mitfeiern, sich mitfreuen, wie soll er da fröhlich sein, als sein jüngerer Bruder zum Vater zurückkehrt?
„Ich habe es schon immer geahnt“, sagt er zu seinem Vater, „wo sind meine Jahre geblieben, Vater, die vielen Jahre, in denen ich Tag für Tag treu meine Arbeit getan habe?“
Und dann redet er von den unausgesprochenen Wünschen, den unerfüllten Sehnsüchten, den Träumen ...
All das kommt jetzt in ihm hoch.
Die Musik des Festes schallt herüber und verstärkt noch seine Unzufriedenheit.
Und wir stehen daneben und hören zu.
Wir denken vielleicht an unsere verrinnenden Lebensjahre, an unsere Wünsche, Sehnsüchte, Träume.
Kommt da vielleicht auch Neid und Verbitterung hoch?
Es fühlt sich nicht gut an, der ältere Sohn zu sein.
Es tut weh beim Fest des Lebens außen vor zu bleiben.
Liebe Schwestern und Brüder,
zwei Kinder, zwei Leben.
Ich sehe mein eigenes Leben im Spiegel dieses Gleichnisses.
Ich bin mir gar nicht so sicher, wo ich eigentlich stehe - vor der Tür, hinter der sich das Fest des Lebens abspielt?
In der Fremde, am Trog bei den Schweinen?
Oder schon in den Armen des Vaters?
Ja, das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ bewegt mich, fordert mich heraus und fragt nach meinem Standpunkt.
Deshalb gehört es für mich zu wertvollsten Geschichten der Bibel.
Ich bin der jüngere, ich bin der ältere Sohn und ich ahne etwas vom „Versprechen der Hoffnung“, das dieses Gleichnis birgt: Auch ich werde mit offenen Armen empfangen; auch ich darf das Fest des Lebens mitfeiern.
Gott fängt mich auf in seinen Armen.
Jesus erzählt die Geschichte von den beiden Söhnen nicht zu Ende.
Das ist kein Zufall.
Wir sollen sie mit unserem Leben weitererzählen.
Der Ausgang ist offen, aber ich wünsche mir für uns, für jeden Menschen ein gutes Ende.
Vergessen wir beim Weitererzählen das Wichtigste in diesem Gleichnis nicht:
Der „verlorenen Sohn“ wird zum „wiedergefundenen Sohn“.
Der „treue Sohn“ war nie verloren und ist selbstverständlich eingeladen.
Aber er darf nicht verloren gehen – er soll sein Erbe festhalten.
Denn es ist ein Erbe vom himmlischen Vater, von Gott, der seinen Kindern, der uns allen seine ausgebreiteten Arme entgegenstreckt und uns zuruft:
„Lasst euch versöhnen in meinen Armen“.
Das ist das Wichtigste:
Lasst euch versöhnen in den Armen des himmlischen Vaters!
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.