28.08.2022 - "Liebesdienste" - Predigt am 11. So. n. Tr. zu Lk. 7.36-50 von Pfarrer R. Koller
[36] Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. [37] Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl [38] und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. [39] Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. [40] Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! [41] Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. [42] Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? [43] Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. [44] Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. [45] Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. [46] Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. [47] Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. [48] Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. [49] Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? [50] Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
„Immer, wenn ich von Auslandsreisen nach Deutschland zurückkehre, spüre ich unweigerlich, dass der Umgangston hierzulande unhöflich ist. Die zunehmend bürokratisch verwaltete bundesdeutsche Gesellschaft ist nicht nur an ihren Rändern, sondern in ihrer Mitte ein wenig „lieblos“ geworden. Wie oft passiert es mir, dass ich in einer gewissen verbalen Ruppigkeit im Einkaufsladen angesprochen werde nach der Devise: „Platz da, jetzt komm ich...“ oder mir in Geschäften oder Verwaltungen von Mitarbeitenden schlichtes Desinteresse an meinem Anliegen signalisiert wird. Es ist - so scheint es mir - die alte Mentalität, die eher in einer Mangelgesellschaft zu finden war: „Geht nicht - kann ich nicht - hab‘ ich nicht... Gibt’s hier nicht.“ Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass das „Hupen“ im Straßenverkehr exorbitant zugenommen hat? Mit dem Hupen signalisiert der Fahrer doch nur eines: Spring‘ mal schnell zur Seite, denn jetzt komme ich... und ich habe Vorfahrt. In diesen Momenten möchte ich nur eines: raus aus Deutschland! Und offensichtlich geht es ja vielen jungen Menschen ähnlich, die nach dem Abitur erst mal nur eines wollen: „chillen“ und mit „work and travel“ in Australien dieser von ihnen empfundenen Sinnlosigkeit hierzulande entfliehen. Es ist schon beängstigend, dass im europäischen Vergleich der Alkoholkonsum in Deutschland laut Drogenbericht der Bundesregierung stark gestiegen ist.“
Diese Zeilen stammen nicht von mir. Aber beim Lesen haben sie Erinnerungen geweckt an jene erste Zeit, als ich wieder in Deutschland war und nach Jahren in Kenia zurückkehrte. Nein, ein heutiger Zeitgenosse, ein vielreisender aufmerksamer Mensch von heute hat diese Zeilen vor gar nicht so langer Zeit geschrieben. Und er weiß, dass er mit dieser Beschreibung unsere vielgestaltige bundesdeutsche Gesellschaft nur zum Teil trifft, dass es daneben auch viel soziales Engagement, fürsorgliche Nachbarschaftshilfe und eine Kultur des Helfens gibt. Ja, zwischen Tafel-Bewegung, Hospizarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeit bei Feuerwehr, Kirche und Vereinen gibt es viele Menschen, die Anderen Gutes tun - so wie die Frau in der heutigen Erzählung aus dem Lukasevangelium.
„Im Ganzen aber“ - so das Resümee unseres Zeitgenossen - kann ich mich des Eindrucks eines gewissen Lebensfrustes nicht erwehren - trotz der Lärmigkeit auf hunderten von Weindorffesten oder Stadtsommerfesten mit Bier, Musik und Trallala auf Musik-Bühnen. Mir scheint, dass zuweilen der äußeren Dekadenz eine innere Leere entspricht, die man vielleicht mit demokratischem Sinnverlust beschreiben kann. Dies findet sich im Übrigen nicht nur in Deutschland.“
„Die Kunst, kein Egoist zu sein“ von Richard David Precht war ein weiterer Bestseller, in dem er an die Moral des Guten appelliert und diagnostiziert, dass wir einen besseren Umgang miteinander brauchen. Auch wenn die Rede vom „Verlust der Werte“ oftmals etwas holzschnittartig daherkommt, zeigt die Analyse von Richard David Precht vor allem eines: dass der Umgang miteinander sich von einem wohlwollenden Grundton zu einem aggressiven Unterton gewandelt hat. Ob im beruflichen Alltag, wo Kommunikationsprobleme, Mobbing und Burnout Menschen oftmals an ihre Grenzen führen oder bei alltäglichen Begegnungen beim Einkaufen - viel zu häufig findet sich die Spur nörgelnder Missmutigkeit, häufig schon an den Gesichtern erkennbar. Das „Für-Sein“, d.h. dem Anderen Gutes zu wollen, bleibt immer öfter auf der Strecke. Wie oft geschieht es, dass man dem anderen keine guten Absichten unterstellt und das eigene Verhalten dem Zwang eines sterilen Sicherheitsdenkens unterwirft?
Gibt es hierfür Gründe oder Ursachen? Mir scheint, dass neben politischen und soziologischen Analysen der heutige Predigttext, die Erzählung von Jesu Salbung durch die Sünderin, wie sie im Lukasevangelium beschrieben wird, hier eine Spur zeigen kann.
Beim Lesen der Geschichte bin ich immer wieder über diesen Halbsatz gestolpert: „wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“.
Ganz offensichtlich baut Jesus hier einen inneren Zusammenhang von Vergebung und Liebe auf. Ist das so, frage ich: macht Vergebung Liebe erst möglich? Und umgekehrt: Führt der Verlust an Vergebung zu einer Abnahme der Liebesfähigkeit? Verkommt also das Zusammenleben von Menschen zu allen möglichen Formen von Lieblosigkeit, wenn es keine Vergebung mehr gibt?
Vor 60 Jahren hat der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter die bundesdeutsche Gesellschaft, die sich jeglicher Aufarbeitung der NS-Vergangenheit verweigerte, als „unfähig zu trauern“ analysiert.
Könnte es sein, dass wir heute an der „Unfähigkeit zu vergeben“ leiden? Und dass die Unfähigkeit des Vergebens zu einer mangelnden „Kunst des Liebens“ führt, wie Erich Fromm es beschrieb?
Beruhen Konflikte im beruflichen und zwischenmenschlichen Umfeld etwa oft darauf, dass Menschen nicht bereit sind zuzugeben, eigene Fehler zu machen und dann dem Anderen auch Fehler zugestehen zu können?
Die Sünderin in der Erzählung im Lukasevangelium hat viel Liebe gegeben. So viel, dass es schon „mehr als peinlich“ war, wie Pfarrer Taig in seiner gleichlautenden Predigt einmal wunderschön ausgeführt hat. Sie finden seine Predigt im Archiv (Predigten 2007)!
Sie kommt mit einem Glas Salböl - eine Geste, die im jüdischen Alltagszusammenhang dem Gast eine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringt und ihm „Ehre“ erweist. Eine Geste, die auch der Besonderheit des Gastes Rechnung trägt. Da kniet sie nun zu Füßen Jesu. Und weint.
Oftmals liegt der Schlüssel zum Verstehen biblischer Geschichten gerade in dem, was nicht gesagt wird. So auch hier! Denn womit jeder - und dafür steht der Pharisäer Simon - womit jeder gerechnet hat, ist, dass ein frommer Mann wie Jesus diese Sünderin mit harschen Worten von seinen Füßen vertrieben und sie mit deutlichen Worten aus dem Raum geschickt hätte. Aber genau das geschieht nicht. Im Gegenteil! Jesus lässt sie ihren Liebesdienst tun und ich bin mir sicher, dass er sie dabei angeschaut hat.
Aufgemerkt! Denn das Verhalten der Sünderin ist nichts anderes als die „Spiegelung“ des Verhaltens Jesu. Ihre Tränen sind Tränen des Glücks! Ja, zu ihm darf sie kommen obwohl der Pharisäer Simon sie nicht eingeladen hat. Ja, zu seinen Füßen darf sie knien ohne kleingemacht zu werden. Ja, intime Nähe darf sie zu ihm haben trotz ihrer Vorgeschichte.
Ihr Handeln Jesu von Nazareth gegenüber spiegelt die Erkenntnis, dass ihr trotz allem vergeben wurde, dass sie trotz allem von diesem Jesus auf Augenhöhe angenommen wurde. In ihrem Handeln spiegelt sich nichts weniger als die verschwenderische Liebe Gottes.
Ja, Vergebung macht Liebe erst möglich. Indem Jesus nicht auf der Sündhaftigkeit der Frau - worin auch immer diese bestanden haben mag - beharrt, sondern ihr in würdevollem Umgang begegnet mit Respekt und in einer Kultur der Anerkennung, verwirklicht sich das, was unsere lutherische Tradition wie keine andere betont: gelebte Rechtfertigung! Und damit ist nicht ein Lehrartikel aus alter Zeit oder ein Lehrstoff für universitäre Seminare gemeint. Gelebte Rechtfertigung meint unseren Alltag und zielt auf die Sprengkraft der Vergebung mitten in unserem immer wieder lieblosen Leben.
Denn Vergebung öffnet Herzen, wo vermutete Missgunst dem Anderen immer Böses unterstellt. Aus der Vergebung heraus begegne ich dem anderen Menschen einfach anders.
Friedrich Nietzsche rief einst der Kirche des 19. Jahrhunderts zu: „Erlöster müssten die Christen sein“. Ich glaube, das gilt auch noch heute.
Freilich, Erlösung, so sagt uns die heutige Geschichte, geschieht da, wo wir zu Jesu Füßen knien, und trotz allem von ihm freundlich angeschaut werden.
Erlösung geschieht dort, wo unser Herz von seiner Liebe angezündet und zum Brennen gebracht wird, wo Menschen Tränen des Glücks weinen.
Wo dies geschieht, kann eine Gesellschaft der Gefahr entgehen, lieblos zu werden und zu einer Gesellschaft von Egomanen zu verkommen.
Durch Liebe in Liebe - für mich ist die heutige Erzählung ein heilsamer Aufruf an uns Christen: Zum genauen Hinschauen und Sich-Einüben in eine Kultur gegenseitiger Annahme und Achtsamkeit! Und auch dies ist mir beim Einkaufen schon durchaus begegnet.