31.12.2022 - "Im Blick Gottes" - Predigt am Altjahresabend zur Römer 8,31b-39 (Pfr. Stefan Fischer)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir hören das Predigtwort für diesen letzten Tag im Jahr aus dem Brief des Paulus an die Römer im 8. Kapitel, die Verse 31b-39:
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?
Christus Jesus ist hier, der gerecht macht.
Wer will verdammen?
Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
Wie geschrieben steht: »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe«.
Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Liebe Gemeinde,
was uns Paulus heute mit seiner Lebenserfahrung als Christ vor Augen führt, gleicht eher einer atemberaubenden Achterbahn!
Umso erstaunlicher ist es, dass er rückblickend und vorausblickend der Gemeinde in Rom schreibt:
„Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes!"
Als ob er unsere Skepsis ahnt, führt er Beispiele aus dem eigenen Leben an.
Sprachlich extrem verdichtet, nennt er uns geradezu atemlos Nackenschlag um Nackenschlag, die allen positiven Erwartungen an das Leben widersprechen.
Jeder einzelne von ihnen kann ausreichen, um jemand am Leben verzweifeln zu lassen.
In der Aufreihung ist sie geradezu unerträglich, wenn Paulus von „Leiden, Angst, Verfolgung, Hunger, Kälte, Gefahren für Leib und Leben oder gar Hinrichtung" schreibt (Version: Gute Nachricht).
Paulus beschreibt hier sind seine eigenen Erfahrungen aus den Missionsreisen durch Kleinasien.
Er war Verdächtigungen ausgesetzt, ihm wurde unterstellt ein Aufrührer und Betrüger zu sein.
Mehr als einmal waren die Leute sogar so aufgebracht, dass sie ihn steinigen wollten.
Selbst in den eigenen Reihen war er umstritten: Sogar die Christen trieben ihren Spott mit ihm und wandten sich von ihm ab.
In einer solchen Situation hätten die Glücklicheren unter uns einfach alles hingeworfen, biblisch gesprochen, „den Staub von ihren Füßen geschüttelt" (Mt 10,14) und ein neues Leben angefangen.
Die eher in sich Gekehrten hätten sich vielleicht eher gefragt, was sie falsch gemacht haben könnten.
Die Grübler dagegen werden durch solch bittere Erfahrungen eher auf die prinzipielle Frage gestoßen, die Paulus zu Anfang nennt: „Ist Gott für uns?" (V. 31a)
Wenn wir heute in der Kirche zum Altjahrsabend zusammenkommen, dann sicherlich auch, um Bilanz des letzten Jahres zu ziehen mit der Hoffnung auf ein möglichst positiveres kommendes Jahr.
Das biblische Leitwort für 2023 lautet aus dem 1. Buch Mose Kapitel 16 Vers 3: „Du bist ein Gott, der mich sieht".
Gott sieht die Menschen mit ihren Sorgen und Problemen, Nöten und Ängsten.
Wir waren hoffnungsvoller in dieses Jahr gestartet.
Dachten wir nicht, nach zwei Coronajahren würde alles wieder besser werden?
Und ja, Corona scheint nicht mehr das große Problem zu sein.
Die Pandemie scheint ausgestanden – hoffentlich!
Doch, dann kam der 24. Februar und mit ihm die „Zeitenwende“ – in vielen Dingen.
Vor allem für das geschundene Ukrainische Volk.
Was sich niemand – auch ich nicht – vorstellen konnte ist passiert: Krieg in Europa – in einem Ausmaß, dass wir nur schwer abschätzen können.
Tausende von Todesopfern, Millionen auf der Flucht, Ausharren in U-Bahn-Stationen und in kalten und dunklen Wohnungen.
Weil einer seine Männlichkeit nicht im Griff hat.
Und leider zu viele seinen Lügenmärchen glauben wollen.
Gott sieht die leidenden Menschen und er sieht die Aggressoren, die Autokraten und Diktatoren, die Ich-Menschen, denen ein Menschenleben nichts wert ist, wenn es den eigenen Interessen dient.
Jeder wird offenbar werden müssen vor dem Richterstuhl Gottes.
Der gerechte Gott sieht und vergisst nicht.
Ich weiß, dass ist ein schwacher Trost für alle unmittelbar Betroffenen.
Und betroffen – auch das stellte uns das 2022er Jahr vor Augen – sind wir alle.
Ob Energiekrise, Inflation, Klimawandel, Krieg und Frieden, Armut und Hunger – jede und jeder von uns ist ein Rädchen im globalen Getriebe, hat im Großen wie im Kleinen Anteil daran,
Du bist ein Gott, der mich sieht – viele werde sich fragen: Warum greift er dann nicht ein?
Warum lässt er seine Schöpfung mit ihren Problemen scheinbar allein?
Ich befürchte, die Antwort darauf wird uns nicht gefallen:
Gott wird uns die Probleme nicht einfach so lösen.
Gott wird uns unsere Fehler nicht einfach wegkorrigieren.
Gott sieht uns und weiß, was wir zu leisten imstande sind.
Deshalb ruft uns alle zur Verantwortung.
Und zur Buße: Lernt aus Euren Fehlern und kehrt euch ab von Eurem selbstsüchtigen Verhalten.
Wahrscheinlich werden wir uns wieder stärker selber einbringen müssen, als das manchmal in der Vergangenheit der Fall war.
Wir werden weniger „kaufen" können und werden stattdessen wieder öfter selber „machen" müssen, um den Standard zu halten.
Wir in Deutschland werden weniger Geld haben.
Wir werden gefordert sein, mit Mangel umzugehen.
Gott sieht uns und gibt uns die Lösung an die Hand.
Gott ist ein Gott der Beziehung und der Gemeinschaft.
Sein Gebot der Liebe ist der Schlüssel.
Nicht das Materielle, dass wir verlieren, wird uns und untergehen lassen – sondern die Liebe, die wir eifersüchtig für uns behalten und anderen vorenthalten.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – im Alltäglichen wie im Besonderen.
Ich weiß, dass man Übeltäter nicht ungestraft laufen lassen darf; gerade die Schwachen und die Opfer bedürfen des Schutzes.
Völker dürfen nicht ungestraft von ihren Nachbarn überfallen werden.
Unschuldige Kinder und Erwachsene dürfen nicht ungesühnt misshandelt werden.
Bei der Liebe Gottes geht es um eine Grundsicht, eine richtige Grundeinstellung.
Bin ich bereit, meinen Mitmenschen – ganz gleich, wer das gerade sei – so zu sehen, wie Gott mich sieht?
Genauso unvollkommen und fehlbar, genauso hilfsbedürftig und gierend nach Würde und Wertschätzung wie ich es auch bin?
Ja, wir werden den Gürtel enger schnallen müssen.
Ja, wir werden als Einzelne, wie auch als Gruppen unserer Gesellschaft umdenken müssen.
Es wird nicht so weitergehen wie bisher – auch in der Kirche nicht.
Wir stehen als Kirchengemeinden vor großen Umbrüchen.
Kirchenaustritte, weniger Haupt- und Ehrenamtliche – das alles wird uns zusetzen.
Aber daran wird die Kirche Jesu Christi nicht zugrunde gehen, wenn sie sich auf das Wesentlich besinnt – auf ihren Kern – auf das Evangelium – auf die frohe Botschaft, dass Gott seine Menschen liebt – dass er uns in Krisenzeiten nicht allein lässt – dass er uns helfen will, einander beizustehen und den Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen.
Wer könnte das besser wissen als der Apostel Paulus.
Es predigte und schrieb nicht als Naivling – als einer, der nur die Sonnenseiten des Lebens kennt.
Paulus predigt nicht als krisenloser Mensch.
Seit seinem Bekehrungserlebnis, seinem Damaskuserlebnis, sind schließlich „Leiden, Angst, Verfolgung, Hunger, Kälte, Gefahren für Leib und Leben oder gar Hinrichtung" zu seinen ständigen Lebensbegleitern geworden!
Was Paulus aber bei all diesen Nackenschlägen auszeichnet, ist vor allem eins: er verliert nicht den Überblick, selbst wenn ihm gelegentlich in konkreten Situationen der Durchblick fehlt.
Bei der Beantwortung der Frage „Ist Gott für uns"? scheinen ihm zwei andere Fragen immer wieder durch den Kopf zu gehen:
„Wenn wir uns Christen nennen, mit welchem Recht soll es uns besser gehen als Christus, der zu seiner irdischen Zeit verspottet, geschlagen und gekreuzigt wurde?"
„Warum sollen mir Bedrohungen und Nackenschläge Angst machen, wenn Gott an Christus zeigt, dass er sie überwinden wird?"
Diese veränderte Blickrichtung verändert die Lebenseinstellung des Paulus.
Er wird frei von den zermürbenden Einzelsorgen und sieht stattdessen wieder, worauf letztlich alles menschliche Streben hinauslaufen sollte, nämlich auf Gottes weltumspannende, Frieden und Gerechtigkeit umfassende Liebe.
Mit diesem Perspektivwechsel gelingt ihm der Durchbruch durch die Alltagsängste, die hektischen Versuche, wenigstens zu retten, was noch zu retten ist. Stattdessen wachsen in ihm bei allen widersprüchlichen Alltagserfahrungen wieder Zutrauen und Vertrauen, sogar eine unerschütterliche Geborgenheit.
Nur darum bleibt er auch nicht an der grüblerischen Frage hängen „Ist Gott für uns?", sondern er fährt fort:
31 Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wird das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes allgemein das „Hohelied der Liebe" genannt, so verdient unser Predigtabschnitt aus Römer 8 den Titel „Hohelied des Vertrauens", wenn Paulus fortfährt:
38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Unsere Alltagssorgen sind damit keineswegs aufgehoben.
Unsere Verantwortung für das, was um uns und mit uns geschieht gerade deshalb auch nicht.
Aber wir können das alte Jahr in Gottes Hand legen und zuversichtlich in das neue gehen.
Bleiben wir bei Gott und bleiben wir bei uns.
Behalten wir den Überblick, weil Gott uns im Blick hat.
Amen.
Der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.