19.02.2023 - "Der unendliche Wert der Menschenseele"- Predigt am Sonntag Estomihi zu Markus 8, 31-38 von Vikar Jacques Fabiunke

Liebe Gemeinde,

Leben oder Seele? Was sind Sie bereit zu geben?

Nach den Worten des Evangelisten Markus sagt Jesus:

Nach Markus hat sich im Leben Jesu folgendes zugetragen:

„Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohepreistern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.

Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren.

Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach:

Geh weg von mir Satan! Denn du meinst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist.

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.

Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse“ (Mk 8, 31-37)

Dieses faszinierende Stück Evangeliumstext hat man ja schon das ein oder andere Mal und zu verschiedenen Gelegenheiten gehört. Es ist sicher nicht zu viel gesagt, wenn man diesen Text zum Urbestand unseres evangelischen, ja unserer christlichen Tradition überhaupt rechnet.

Doch häufig sind es gerade diese Texte, welche mehr sagen als man stets zu hören meinte, deren Botschaft gleichsam schwieriger sein kann, als man bisher angenommen hat. Dieser Text ist für mich solch ein Text.

Ich habe ihn im Theologiestudium, in der Kirche, und sozusagen in Funk und Fernsehen zigfach gehört.

„Ach, das ist doch das mit Selbstaufgabe?! Also ein Christ sollte sich nicht an seinen Gewohnheiten, seinem Besitz, vielleicht sogar seiner Familie klammern, sondern sich ganz Jesu Weg, also Gott, verschreiben.“

Abgehakt – verstanden – weitermachen.

Ich möchte nicht abschätzig klingen, aber so ergeht es mir mit so manchem gut bekannten Text. Das intuitive und schnelle Verständnis hat durchaus seine Berechtigung. Es ist gar nicht mal falsch. All dies – Selbstaufgabe, Nachfolge etc. – steckt in dem Abschnitt auch drin. Diese schnelle Botschaft beseelt und erleichtert in manchen Situationen. Und darüber ließe sich vorzüglich und mit ganz eigenem Recht predigen. Heute aber möchte ich mit Ihnen teilen, was mir an dem Text schwierig erscheint. Diese Schwierigkeit bietet aber auch Chancen. Spannend macht sie den Text allemal.

Ich erinner mich also nochmal meines ersten, und fest sitzenden Verständnisses der eben vorgebrachten Rede Jesu:

Christusnachfolge bedeutet, das eigene Leben so ein bisschen loszulassen und dann zu warten, was passiert. Etwa wie die Vögel im Himmel. Bekanntlich kümmern die sich wenig um morgen, planen nicht voraus, arbeiten nicht mal schwer, doch der Vater im Himmel ernährt sie trotzdem.

Jemand, der angestrengt klammert, hört auf, den Moment, also in seiner eigentlichen Gegenwart zu leben, und neigt zur Verbohrtheit. Dass Kontrollsucht oder Umklammerung, wie auch immer man es nennen möchte, zu großen Enttäuschungen führen können, zu dieser Erkenntnis bräuchte es nicht einmal Gott. Das Leben ist zu komplex, die Zukunft zu unvorhersehbar, als dass man die Gegenwart vernachlässigen könnte.

Aber Jesus sagt mehr: wer die krampfhafte Umklammerung um dieses, „sein“ Leben löst, und das für Jesus und in seiner Nachfolge tut, der wird „sein“ Leben erhalten.

Zuerst verwundert es an dieser Stelle, warum nicht einfach von „Leben“ die Rede ist? Stattdessen immer wieder diese merkwürdig possessive und individualisierte Sprachweise: „mein Leben“, „dein Leben“, „sein Leben“. Was ist mein Leben, das ich verlieren oder erhalten kann?

Vielleicht die Summe aller Dinge, die ich besitze, die ich erlebt habe und, Gott weiß, noch erleben werde?

Da habe ich also ein Haus, ein Auto, eine Frau, ein Hund, etc. und ein Sack voller individueller Erfahrungen. Klammere ich, so verliere ich alles. Lasse ich allmählich los und trete in die Nachfolge Christi, so erhalte ich dies alles wieder zurück. Schließlich erhalte ich ja „mein Leben“ wieder zurück, wie Christus in Vers 36 spricht. Mich jedenfalls befriedigt diese Rede Jesu so nicht. Mancher würde es so vielleicht gar nicht zurück haben wollen?

Ist „mein Leben“ vielleicht eine physische Kraft, die in mich eingesenkt wurde und mir jederzeit entzogen werden kann? Würde ich den Lebensantrieb verlieren, also quasi den Tod mitten im Leben finden, wenn ich mein Leben nicht nach Christus ausrichten würde? Würde diese Lebenskraft zurückkehren, wenn ich einsichtig ganz evangeliumsgemäß leben würde?

Und dann der zweite Abschnitt der Rede:

Markus setzt nochmal an, und lässt Jesus seinen Gedanken zu ende führen: „Denn“, so setzt Jesus seine Rede fort, „was würde es dem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?“

„Seiner Seele“? Gerade sprach Jesus noch über das Leben eines Menschen, also „sein Leben“? Die Seele, das ist doch ganz was anderes: sie, die Seele kann niemals als Bündel von Äußerlichkeiten missverstanden werden. Sie ist weitaus mehr als bloße Lebensregung. Meine Seele, das bin wirklich ich. Meine Seele, ist was bleibt, wenn mich mein Leben verlässt. Seele: ist sie nicht auch ein Funken vom Vater droben im Himmel?!

Ja wahrlich: nichts wertvolleres vermag ich zu geben, denn meine Seele. Sie zu verlieren, würde bedeuten alles zu verlieren.

Eine schadhafte Seele, wie sie Jesus im Text vorstellt, möchte ich als eine verstehen, die mit Gott in Trennung lebt. Ob der übermächtigen Gnade Gottes, unseres Vaters möchte ich es ausschließen, dass er seinerseits meine Seele ganz vergisst.

Aber schlimm ist es um mich persönlich bestellt, wenn ich doch vergesse, wem ich sie verdanke und damit wer ich bin! In der Erkenntnis Gottes des Vaters erkennt die Seele sich selbst, und kommt zu sich. Ich spüre den Quellgrund meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart und meiner Zukunft: Von Gott, in Gott, zu Gott.

Die Welt weiß von Jesus als dem Mann, der radikal in diesem Bewusstsein lebte. Desgleichen weiß sie von ihm als dem, der von Gott aus reiner Liebe gesandt wurde, um bei den Menschen zu sein, und für die Menschen ans Kreuz zu gehen. Jesu Geschichte mit Gott war die Heilsgeschichte eines einzelnen Menschen hier auf Erden mit dem großen Gott 'droben im Himmel. Der Welt wurde damit „der unendliche Wert der einzelnen Menschenseele“ offenbar gemacht. Wer an Jesus Christus glaubt, der glaubt an Gottes väterliche Fürsorge, wo er steht und geht. Die Namen derer, die so glauben sind in den Himmel eingeschrieben.

Ich möchte nochmal zu meiner ursprünglichen Verwirrung zurückkehren: Die Argumentation Jesu im Markusevangelium will aus einem Guss erscheinen, und dennoch: der begriffliche Wechsel von „Leben“ auf „Seele“ bringt ein störendes Moment in sie hinein:

Das griechische Wort für Seele kann im Deutschen jedoch auch Leben bedeuten. Luther entschied wohl in ein und derselben Textstelle einmal so und ein ander mal so. Neuere Übersetzungen folgten dieser Entscheidung und bauten sie an anderen Stellen des Neuen Testamentes vermutlich noch weiter aus. Ein Theologe[1]. sprach einmal in diesem Zusammenhang von der „Entseelung der Bibelübersetzungen“. Warum mehr Seele und weniger Leben in der Bibel? Nun, man fürchtete wohl Verwirrungen des Christlichen mit Inhalten der antiken Philosophie:Die griechische Vokabel besitzt zudem eine mehr ganzheitliche Bedeutung, als die deutschen Begriffe „Seele“ oder „Leben“. Im griechischen Denken war beides zugleich. Das, was im Griechischen „Leben“ und „Seele“ bedeutete, steckt gewissermaßen sowohl in den Gliedern, als auch im Kopf. Seele begreift wahrhaftig den ganzen Menschen. Damit vermag der griechische Begriff h, fuch, in der Tat mehr als die deutschen Alternativen „Seele“ oder „Leben“ das ganze Individuum zu begreifen.

Die deutsche Übertragung unserer Textstelle gelänge folglich auch so:

„Denn wer seine Seele erhalten will, der wird sie verlieren; und wer seine Seele verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird sie erhalten.

Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?“

Wer hiernach versucht wahrer, einzigartiger Mensch zu sein, und dabei Gott vergisst, der wird scheitern. Wer sich aber tagtäglich daran erinnert, dass uns Jesus Christus von einem aufmerksamen Vater im Himmel lehrte, der in all seiner Güte seinen eigenen Sohn am Kreuz sterben, und dann wieder auferstehen ließ, der wird seinen eigenen, ewigen Wert und den seiner Mitmenschen erkennen.

Meine Einzigartigkeit und die meines Nachbarn ist nicht irdisch. Sie lässt sich eben nicht als Quersumme irdischer Güter und Belange eines Menschen beschreiben. In Gott ist sie ewig aufgehoben. Er hat mich erdacht, und er wird mich zum Ziel führen, das da bedeutet, dass er mich in Ewigkeit zu sich holen wird. So sahen und hörten wir es bei und von Jesus, seine geliebten Sohn. Was sollte ein gütiger Vater auch sonst tun, als sich seine Kinder ewig bei sich zu wünschen?

Sich dieser Hoffnung gewahr werdend, sprach Luther einst:

„Unser Herrgott wird nun wohl sehen und wissen, wo mein Seelchen bleiben soll, der so sorgfältig für dasselbe gewesen ist, daß er sein eigen Leben gelassen hat, auf daß er meines errette, der fromme Hirte und treue Bischof der Seelen, so an ihn glauben. Denn er wird nicht am ersten an mir anheben und lernen, wo er die Seelen so ihm vertrauen, versorgen, pflegen und verwahren soll.“[2]

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

[1]    Erich Fascher, Seele oder Leben? Die „Entseelung“ der Bibel durch ihre modernen Übersetzungen (Berliner Hefte zur Förderung der evangelischen Krankenhausseelsorge 7, Berlin 1959.

[2]    WA I, Nr. 1150