10.04.2023 - "Lebendig erinnern" Predigt am Ostermontag zu Lk 24 (Vikar Fabiunke)

Liebe Gemeinde,

 

Jesus geht ein Stück des Weges, den die Jünger nach seinem Tod zu beschreiten haben. „Zwei von den Jüngern“, heißt es im Text, bewegen sich etwa 11 Kilometer von Jerusalem entfernt übers Land. Aufarbeitung betreiben sie, Aufarbeitung dessen, was sie gesehen und gehört hatten. Als Menschen arbeiten wir doch noch am besten im Gespräch auf. Die beiden Jünger bleiben nicht lange allein. Der Heiland selbst erscheint ihnen, um sie ein Stück des Weges zu begleiten. „Ihre Augen aber wurden gehalten“, deshalb konnten sie nicht erkennen, wer sie begleitete. Erst zu Ende heißt es: „Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.“

 

In der Zwischenzeit war einiges passiert: Wie hätten sie diesen, der sich gar nicht zu erkennen geben wollte, erkennen sollen? Als „Fremden“ sehen sie ihn zunächst, über den sie sich lautstark wunderten, dass er von allen Geschehnissen um Jesus und dessen Tod noch nichts gehört hatte. Schließlich hätte die ganze Welt bereits davon gehört. Der Heiland schweigt nur und erfragt, was jeder Mensch zu diesem Zeitpunkt gehört haben sollte. Er stellt sich quasi dumm.

 

Offenbar war er äußerlich nicht wieder zu erkennen. Das Gewand war vermutlich ein anderes als zu seiner Kreuzigung. Nicht auszuschließen, dass selbst die Gesichtszüge und seine Stimme eine andere waren.

Jesus mag sich gezeigt haben, um seine Auferstehung zu beweisen. Er wollte beweisen, dass er zum Vater zurückkehren wird, dass seine Macht größer als die Macht des Todes war, und er die Menschen nicht mehr verlassen würde. Der Sinn hinter der Erzählung ist so klar wie rätselhaft. Wahrlich eine schöne Geschichte, wenn ich das sagen darf. Was lässt sich über ihre Absicht sagen? Jeder, der erzählt, beabsichtigt etwas. Die Emmaus-Geschichte wurde vom Evangelisten Lukas aufgeschrieben. Dieser wiederum hat sie womöglich selbst erzählt bekommen. Vielleicht stammt die Erzählung, die Lukas aufgeschrieben hatte, sogar von einem echten Zeugen dieser Geschehnisse.

 

Kann es sein, dass diese Geschichte uns etwas über unseren eigenen Weg mit Jesus Christus verraten möchte? Ich finde, dies liegt sehr nahe. Die Geschichte beschreibt also nicht so sehr ein einmaliges historisches Ereignis, als sie unseren Blick darauf richten möchte, wie wir – über 2000 Jahre später – Christus nahe sein können. Ganz nebenbei hat sie Brisantes darüber zu sagen, wie wir andere Menschen erkennen und bei uns behalten, und nicht zuletzt, wie leibliche Gegenwart noch verstanden werden kann.

 

Wir heutigen Menschen in der nordwestlichen Hemisphäre der Welt sind häufig „Augenmenschen“. Nach meinem Dafürhalten sind wir das zwar schon seit längerer Zeit, diese Einseitigkeit der Wahrnehmung aber scheint sich durch unsere modernen Medien noch weiter auszuprägen. Unsere Realität erschließen wir uns in Büchern, durch den Fernsehapparat, in gedruckten Bildern der Zeitungen und Zeitschriften, in täglich unzähligen Bildern und Videos über das Internet, welches wir auf unseren PCs und Handys betreten können.

Nur das, was wir sehen, lassen wir als real gelten.

 

Bedenken wir diese Einseitigkeit unserer eigenen Wahrnehmung, können wir sagen, dass die Emmaus-Erzählung nichts an Aktualität eingebüßt hat. Ganz im Gegenteil. Ihre besondere Botschaft will gerade heute erzählt werden.

Sie lehrt uns auch, für real zu halten, was wir nicht sehen können, was uns nicht vor Augen steht, so wie Sie mir gerade oder dieser Kirchbau vor Augen stehen. Darin liegt ihr Erkenntnispotenzial.

Sie hat uns einiges über Gegenwärtigkeit, Präsens, körperliche Realität, wie auch immer man es nennen möchte, mitzuteilen. Darin liegt auch ihr großer Trost.

 

Ich möchte zuerst einen Blick darauf nehmen, was die Erzählung uns über Wirklichkeit sagen kann:

In der Erzählung begegnet eine kleine Gruppe von Jüngern dem Auferstandenen. An Leib und Gliedern war dieser vermutlich verwandelt. Seine Hülle war ausgetauscht. Dies wird zwar nicht explizit genannt, zur Entlastung der Jünger wollen wir es aber annehmen.Und nicht mal auf den zweiten Blick erkannten sie ihn. Einen ganzen Tag brachte Jesus mit den Jüngern zu, ohne erkannt zu werden. Und dann der große Durchbruch: Der fremde Begleiter soll nicht hungrig seiner Wege gehen, und mit den Jüngern einkehren. Zu Tisch also sitzen sie, und nicht eher als Jesus das Brot bricht, seinem Vater im Himmel dankt, und es den Jüngern reicht, wie er es zuletzt vor seiner Gefangennahme beim letzten Abendmahl getan hatte, erkennen ihn seine zwei Tischgenossen als der, der er wirklich ist und immer war. In diesem Moment haut es sie fast vom Stuhl. Doch was haben sie plötzlich erkannt?

 

Nicht zufällig, möchte ich behaupten, spart die Erzählung an ihrem Wendepunkt mit Details. Bei Jesus Christus reichten die Handlungen des Dankes und Brotbrechens aus, um den Jüngern die Augen zu öffnen. Haben Sie gemerkt, dass vom Wein gar nicht die Rede ist? Zum ganzen Abendmahl fehlt also noch genau ein Element, wie man in der Kirche sagt. Komisch eigentlich. Doch auch in diesem Falle möchte ich ein Versehen oder Übersehen des Weines durch den Evangelisten ausschließen.

 

Stellen Sie es sich so vor: Sie beobachten jemanden im Café, den Sie schon lange nicht mehr getroffen haben. Sie beobachten diesen Menschen also eine ganze Weile. Dabei umfängt sie eine nebulöse Ahnung, welche sie ja zuerst dazu veranlasst hat, den Menschen im Auge zu behalten. Aber Sie kommen einfach nicht drauf. Und dann plötzlich: er zückt irgendetwas, das Sie nur mit ihm verbinden, sie nehmen seine oder ihre absolut einzigartige Gangart wahr, als er oder sie zur Toilette geht, und dann trifft es Sie: „Ach nein, das ist ja...“

 

Wir, die visuellen Experten, hatten die Person vielleicht sogar über Stunden im Blick ohne darauf zu kommen, wer sie sein könnte. Und dann verrät sich Ihnen diese Person durch eine Kleinigkeit, die vielen nicht mal auffallen würde.

Der einzelne Mensch ist mehr als sein bloßes Bild, und sei es noch so hochauflösend. Kein gestochen scharfes Bild ersetzt, was wir an Menschen mit individuellen Bewegungen, Objekten, Handlungen, oder Gerüchen verbinden. Und noch etwas: um jemanden wieder zu erkennen reicht es nicht, dass sich an einem Menschen gewisse Dinge oder Eigenschaften beobachten lassen. Sie müssen in gewisser Kombination und Abhängigkeit voneinander, zu einem bestimmten Moment auf wahrhaft einzigartige Weise zusammenkommen. Und dieses Zusammenkommen ermöglicht nicht nur Erkenntnis, sondern es schafft auf ganz besondere Weise auch Realität.

 

Vielleicht lässt sich diese Realität als die zweite Tiefenschicht der rein sichtbaren begreifen. Sie geht viel tiefer als zum Sehnerv und dringt in unser tiefstes Verstehen und Fühlen vor. Sie bleibt nicht beim Bild stehen, sondern erschließt sich nur in der Dynamik des Lebens. Was aber so, ist es einmal geschehen, unwiderruflich ins Dunkel der Vergangenheit gesunken zu sein scheint, vermag andernorts und anderer Zeit sich machtvoll neu zu erzeugen.

 

Ich frage Sie, erinnern Sie einen geliebten Menschen als hochauflösendes Bild? Ja, lieben Sie ihn allein in oberflächlicher Vollkommenheit eines fein gezeichneten Bildes?

Wirkliche Erinnerungen sind für mich jedenfalls solche, die ich, erstens, nicht als hochauflösendes Bild in mir trage, und, zweitens, ich gar nicht so richtig steuern kann. Zu bestimmter Zeit, an bestimmtem Ort, da trifft es mich zuweilen, und ein Geruch, vielleicht auch eine Handbewegung, eine Sprechweise und ein Blick schaffen Erinnerung in einer Deutlichkeit, die kein Computer dieser Welt erzeugen könnte. Diese Deutlichkeit ist auch leiblich.

 

Besonders eindrücklich lässt sich dies in der Erinnerung von geliebten Menschen veranschaulichen: Die Liebe schenkt einem Menschen wohl die höchst mögliche Aufmerksamkeit. Ich entdecke in mir von Zeit zu Zeit, dass ich Menschen, die ich wirklich liebe nicht gut erinnern kann, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne als hochauflösendes Foto. Zu viele Ebenen haben sich bereits zwischen mich und dem oberflächlichen Eindruck geschoben. Der liebenden Erinnerung kann ich nicht richtig habhaft werden. Zu viel müsste in genau richtiger Abfolge erinnert werden. Meine gesteigerte Aufmerksamkeit für die geliebte Person hat in mir eine unendlich scheinende Menge von Bildern, Gerüchen, Bewegungen, Stimmungen und so weiter angehäuft.

 

Und trotz dieser Fülle reicht doch die Erinnerung an eine bestimmte Bewegung, vielleicht losgetreten von einem bestimmten Geruch, welche die ganze Person wieder vor mir lebendig werden lässt.

 

Da ist also ein Witwer, der sagt: „Was ich immer an ihr liebte war, wie sie ihr Haar hinter ihr rechtes Ohr gestrichen hat.“ Das ist nicht viel, und dennoch ist es alles. Jemand, der sich solcher erinnert, der erinnert kein Bild, für eine Sekunde erinnert er nicht mal; sondern der Mensch ist für ihn wirklich da, glauben Sie nicht?

 

Jesus war für die Jünger, welche ihren Meister in besonderer Weise liebten, und für uns, die ihn, jeder für sich, auch liebend gewinnen konnten, nicht einfach bildhafte Erinnerung. Die Erinnerung an ihn überwältigte seine Jünger in noch höherem Maße als unsere Erinnerung an eine geliebte Person. Und dann „nahm er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen“ brachte die überwältigende Erkenntnis, das der fremde Gast, ihr alter Herr und Meister war.

 

„Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.“

 

Lassen Sie mich noch einmal mutmaßen: nicht verschwand er sogleich wieder vor den Augen der Jünger, weil das Werk getan, die Jünger von seinem Nachleben überzeugt waren. Vielmehr verschwand er für die Jünger, da sie sich einer Erinnerung bewusst wurden. Christus war vielleicht da, ohne im alltäglichen Sinne da gewesen zu sein. Als Christus das Brot brach, da war er für die Jünger so lebendig, wie es die verstorbene Geliebte für den Witwer war, der für einen Moment ganz in der Erinnerung ihrer Handbewegung des Zurückstreichens der Haarsträhne versank. Im Erwachen aus diesem „Traum“ wird er die Vergänglichkeit in besonderer Intensität erleben. Dies ist der Preis für die zeitweilige Lebendigkeit. Doch seine Braut gab es einmal, und jetzt hatte sie ihn einmal wieder besucht, wenn auch nur für den Moment.

 

Amen.