07.05.2023 - Bethel - Haus Gottes - Predigt zu Mt. 11, 23-30 am Sonntag Kantate von Pfarrer R. Koller

25 Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.

26 Ja, Vater; denn so hat es dir wohl gefallen.

27 Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.

28 Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

29 Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

30 Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Haben Sie schon einmal das TPZ, das Therapeutisch-Pädagogische Zentrum in Hof besucht? Oder die Lehrwerkstätten der Lebenshilfe? Nein? Warum eigentlich nicht?

Schon lange bevor ich 2008 als Pfarrer hier anfing gehörten beide Besuche zum festen Programm für die Konfirmanden der Hospitalkirchengemeinde! Corona hat das die letzten Jahre leider unmöglich gemacht. Aber ich hoffe sehr, dass diese Tradition weitergeführt werden wird. Denn diese Besuche haben die Konfirmanden immer beeindruckt - was man ihren Äußerungen in der anschließenden Gesprächsrunde entnehmen konnte.

Der Halbsatz aus unserem heutigen Predigttext, dass der himmlische Vater „es den Unmündigen offenbart“ hat, hat mich auf die Idee gebracht, mit Ihnen einen Besuch bei den Anfängen dieser Arbeit zu machen. Nein, die waren nicht in Hof.

Die Anfänge der Arbeit mit Menschen mit Behinderung sind mit dem Namen Friedrich von Bodelschwingh und dem Ort Bethel am Rande des Teutoburger Waldes verbunden.

Noch eine Frage: Was wissen Sie über das Krankheitsbild der Epilepsie? Wüssten Sie mit einem Epileptiker umzugehen, wenn er einen Anfall hat – so, wie viele Lehrer das können (bzw. können sollten)?

Im 19. Jahrhun­dert gab es in Deutschland wohl an die 40.000 Anfallskranke. „Sie waren Ausge­stoßene und Heimatlose. Das epileptische Kind wurde von seinen Spielgefährten gemieden. Für fallsüchtige Schüler fand sich keine Schule, und der kranke Handwerksgeselle wurde nach dem ersten Anfall von seinem Meister entlas­sen. Zur Krankheitsnot kamen die wirtschaftlichen Sorgen. Zerrüttet durch die Anfälle und durch das schwindende Selbstbewusstsein in ihrer Persönlichkeit geschwächt, ging es immer rascher bergab. Oft genug war das Irrenhaus die letzte Station.” So erzählt in der Biographie von Bernhard Gramlich über Friedrich von Bodelschwingh.

Klein und einfach waren die Anfänge gewesen. Ein Bauernhaus wurde gefunden, dort wollte man einen Anfang machen, mit den Behinder­ten zusammenleben, ihnen beistehen, helfen und mit ih­nen auch glauben, beten und hoffen.

Freilich - es gab Proteste sei­tens der Bielefelder Bürger, sie sprachen sogar von einer „Pestbeule”.

Aber die kleine Gemeinde Gadderbaum, auf der der Hof lag, ließ sich nicht beirren. Und die Männer und Frauen vom Anfang wussten um ihren Auftrag, sie hat­ten den Ruf gehört, sich gerade dieser Ärmsten anzunehmen. Hatte sie Christus nicht gerade zu ihnen gesandt? So kauften sie den Hof, so bauten sie ein Krankenhaus. Und als es am 12. September 1873 bezogen werden konn­te, predigte Johannes Unsöld, der als Hausvater, Lehrer und Inspektor in der Anstalt wirkte, über die Tageslosung.

Sie fiel auf einen Vers aus dem 1. Buch Mose (35, 3): „Lasst uns aufbrechen und nach Bethel ziehen.”

Und dann sprach er vom irdischen Bethel als von einem Vorhof, einer Pforte zum himmlischen Bethel, „wo man nicht mehr kran­ket, seufzt und fleht, sondern völlig ausgeheilt an Leib und Seele nur noch Lob- und Danklieder singt”.

BETHEL wurde von da an diese Anstalt genannt, und sie wurde vielen zu einem Haus Gottes, in dem nicht nur geklagt, sondern auch Loblieder gesungen wurden.

In einer Waldlichtung hatte man einen Altar aufgebaut, hier kamen Gesunde und Behinderte zusammen, hier feierten sie die Gegenwart Christi.

Es war Friedrich von Bodelschwingh, der auf der Anhöhe eine Kirche, baute. „Christus der Grundstein, Christen die Ecksteine, Gott segne den Bau”, mit diesen Worten hat er den Grundstein gelegt. Es war ein schlichter Backsteinbau.

Auch von Bodelschwingh hatte keinen Zweifel, dass er hierhin gesandt worden war. Sein Auftrag war es, den Ärmsten, den Niedrigsten, den Verach­teten zu dienen. Sein Leben hat er verstanden als Ruf in die Nachfolge.

Die Mutter hatte ihm eine Predigt von Ludwig Hofacker, dem Stuttgarter Erweckungsprediger, vorgele­sen, in der es hieß: „Sein in dieser Welt, wie Jesus in der Welt war, heißt mit anderen Worten ein Mensch sein, in dem das Bild Christi widerstrahlt, dem man es ansieht, dass er ein Jünger des Heilands und seiner Schule gewesen ist, dass er von seinem Geist empfangen hat.”

Diese Worte hatte er nicht vergessen, und als er in sich den Ruf ver­nahm, zögerte er nicht lange, er ging zu den Menschen, die Hilfe brauchten, und so kam er eines Tages auch nach Bethel.

Aus den einfachen Anfängen ist heute eine riesige Einrichtung geworden: Kranken­häuser und Therapieeinrichtungen, Kindergärten und Schulen, Ausbildungsstätten und Betriebe, Begegnungs­möglichkeiten und Freizeitanlagen, mehrere tausend Men­schen leben hier zusammen.

Der Weg führt an all den Gebäuden vorbei zu der kleinen Anhöhe, auf der die Zions­kirche steht. Die Glocken läuten von den beiden Türmen, die eine Spende aus Afrika möglich gemacht hat; und alle Gottesdienstbesucher ziehen durch das Portal, über dem jenes Wort aus dem Matthäusevangelium steht: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.” (11,28)

Wie viel Sorgen und Mühen mögen sich wohl durch die Zeiten in diesem Kirchenschiff gesammelt haben?

All die Menschen…und ein jeder könnte seine Geschichte, sein Schicksal erzählen, könnte erzählen von Enttäuschungen wie auch von ermutigenden und tröstlichen Begegnungen und Erfahrungen.

Aber gilt nicht was über dem Portal steht für einen jeden, der den Weg gefunden hat, den Weg zu dem, der von sich gesagt hat: „Alles ist mir übergeben von meinem Va­ter; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.” (Mt. 11, 27)

In seinen Händen ruhen Gegenwart und Zukunft, was aus mir wird und was aus der Welt wird. Bei ihm allein ist Zuflucht und Zukunft.

Das Kirchenschiff ist deshalb wie ein großes Dach. Hier gibt es Freiheit für die Unterdrückten und Ruhe für die Suchenden.

Der Vater kennt den Sohn und der Grund dieses Kennens ist die Liebe, diese einzigartige Lie­be zwischen Vater und Sohn, und sie bleibt nicht bei sich, sie lässt sich nicht aufhalten, sie geht auf alle über, sie zieht Kreise, sie bezieht die Men­schen mit ein, sie gilt auch Ihnen und mir. Sie liebt mich, wie ich bin, und verändert mich zugleich durch ihre Liebeskraft und bringt mich auf den Weg der Nachfolge.

„Lernt von mir”, sagt Christus. Und wir lernen, indem wir auf ihn schauen, indem wir seinen Spuren folgen.

Friedrich von Bodelschwingh ist ihm nachgegangen. Barmherzigkeit hat er gelernt. Aber es ist für ihn eine schwere Lehre gewesen, so hat er es selbst gesagt. Als er seine Gemeinde ver­ließ, um nach Bethel zu gehen, ließ er auch vier Gräber zurück. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Als unsere vier Kinder gestorben waren, merkte ich erst, wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmher­zig geworden gegen andere.”

Er hat zur Barmherzigkeit ge­funden und hat Barmherzigkeit geübt.

Zuletzt gefragt: Ist Nächstenliebe ein Joch? Wenn es eines ist, dann ist es von anderer Art! Dann ist es nicht nur ein Mühen, sondern mehr noch ein erstaunliches Gelingen, nicht nur ein Geben, sondern mehr noch ein Emp­fangen!

Unter den Händen von Friedrich von Bodelschwingh ist Er­staunliches entstanden, aber es wäre nicht denkbar und für ihn erst recht nicht vorstellbar ohne das Wort Christi, ohne seinen Zuspruch, den er spürte, und ohne seinen An­spruch, den er hörte.

Es ist Christi Aufruf zu Sanftmut und Milde.

Er weiß, wie oft harte Gedanken durch den Sinn gehen, wie oft Antworten schroff sind und verletzend.

Umkehr beginnt in den Herzen und dann fährt sie in alle Sinne. Ja, Nächstenliebe braucht Herz und Verstand und auch Hände!

Bethel ist ein immer noch beein­druckendes Beispiel, ebenso wie das TPZ oder die Lehrwerkstätten der Lebenshilfe in Hof.

Christi Aufruf zu Sanftmut und Milde gilt auch uns heute: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“

Der Gesang hat in Bethel seinen festen Ort und die Cho­räle werden kräftig angestimmt. Loblieder werden gesun­gen und Behinderte wie Nichtbehinderte singen gemein­sam. Für einen Moment sind alle trennenden Schran­ken aufgehoben und beide begreifen sich als Beschenkte.

Nicht das Wissen zählt mehr, das alles wird zum Ballast. Nicht das skeptische Nachfragen und Nachhaken ist mehr von Belang, das alles ist eher hinderlich. Sich singend fallen lassen, Gott zu glauben und dem Sohn zu vertrauen.

Das scheint Menschen mit Behinderungen leichter zu fallen als den anderen! Mit Recht darf man fragen: Wer kann hier von wem lernen?

Das irdische Bethel ist noch nicht das himmlische, aber ein leichter Glanz strahlt doch schon auf.

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.” (Ps. 126,1)

Der Be­ginn des 126. Psalms steht in großen Lettern über der Apsis in der Zionskirche. Er gehört zu den Anfängen Bethels, im­mer wieder wurde und wird er gesungen. Seine Worte schließen die Gemeinschaft zusammen und geben einen Ausblick auf jene Zeit, in der alle Mühen und Sorgen von uns genommen werden, in der alle trennenden Schranken und Barrieren weggenommen worden sind, dann, wenn wir am Ziel sind.

Bis dahin mag es ein langer und weiter Weg sein.

Lasst ihn uns in Zuversicht gehen, nicht jammernd, sondern gemeinsam singend, immer wieder!

Das ist ja auch der Aufruf des heutigen Sonntags: Kantate! Singt!

Also lasst uns singen! Auf dass der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne berühre mit Jesus Christus, unserm Herrn.