27.08.2023 - Richtig reden - Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis zu Mk. 7. 31 - 37 von Pfarrer R. Koller
[31] Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. [32] Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. [33] Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und [34] sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! [35] Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. [36] Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. [37] Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.
Nur noch zwei Tage bis zu ihrem Geburtstag. Übermorgen wird sie siebzig. Sie muss schlucken. Das ist ein Wort. „Einmal, da wirst du siebzig sein, dann bin ich noch bei dir”. Ständig geht ihr in den letzten Tagen dieser alte Schlager durch den Kopf. Die Zahl war unvorstellbar weit weg gewesen, als sie als junge Frau dazu getanzt hatte. Und gestimmt hatte es auch nicht. Der Mann, der damals mit ihr übers Parkett gefegt war, war ein ausgezeichneter Tänzer gewesen. Aber später hatte er sie sitzen lassen wegen einer jüngeren. Die war jetzt erst Mitte fünfzig. Noch immer nagt die Verletzung an ihr. Und über
morgen wird sie siebzig. Da wird der Pfarrer vor
der Tür stehen. Der könnte vom Alter gut ihr Sohn
sein. Er wird lächeln und sagen: Herzlichen Glückwunsch, jetzt sind Sie alt.
Nein, das wird er nicht sagen, er versteht gar nicht, wie das ist, wenn man immer jung war und dann plötzlich siebzig wird. Vermutlich wird er sogar ein Programm vom Seniorenkreis aus der Tasche ziehen.
Siebzig. Die Zahl tanzt ihr manchmal in großen Ziffern nachts vor Augen, wenn sie nicht schlafen kann. Früher hat sie solche Festvorbereitungen lässiger weggesteckt. Vielleicht hat sie sich doch zu viel vorgenommen mit der Idee, das Fest noch einmal selbst ausrichten zu wollen. Sie hätte einfach in einem guten Restaurant Tische bestellen und sich und ihre Gäste verwöhnen lassen sollen. Stattdessen hat sie den Gemeindesaal angemietet und hat nun jede Menge Arbeit damit.
Heute ist Sonntag, da haben die Läden zu, da kann sie nicht viel machen. Sie könnte in die Kirche gehen, dann geht der Vormittag schneller herum. Aber dann muss sie sich beeilen, die Glocken läuten schon. Hastig macht sie sich auf den Weg.
„Mädel, mit dir kam der Krieg“, hört sie die Stimme ihres Vaters von irgendwoher aus der Vergangenheit. Das hat er jedes Jahr gesagt. Es war sein spezieller Geburtstagsgruß, es war die Hypothek, die sie ein Leben lang mit sich herumschleppte, weil sie am 1. September 1939 zur Welt gekommen war. „Mit dir kam der Krieg.“ Er hatte den Vater mitgenommen.
Sie hat die Kirchentür erreicht und schlüpft hinein. Die Orgel spielt schon, es klingt fröhlich. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud”, singen sie. Ihres ist schon längst unterwegs und durchwandert ferne Zeiten. Vielleicht kann es sich anstecken lassen von der Sommerlust und für eine Weile vergessen, was dahinten liegt. Die beschwingte Melodie gefällt ihr. Vielleicht kann sie das Lied noch aufnehmen in die kleine Liedersammlung, die sie für ihren Geburtstag angelegt hat, damit man zu fortgerückter Stunde gemeinsam singen kann. Aber dann bräuchte ihr Schwager noch die Gitarrengriffe. Im Gesangbuch stehen keine.
Sie ist nicht bei der Sache und ruft sich zur Ordnung. Sie sollte besser aufpassen. Den Anfang des Predigttextes hat sie schon verpasst. Jetzt heißt es: „Und sie brachten einen zu Jesus, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.”
Taub und stumm war der Vater gewesen, als er aus dem Krieg nach Hause kam. Der Geschützlärm hatte ihm das linke Trommelfell zerfetzt. Aber das war nicht das Schlimmste. Sie war schon fast zehn gewesen, als der Vater heimkehrte aus der Gefangenschaft, eine graue stoppelige Gestalt. Sie hatte mit der Mutter endlos lange auf einem Bahnsteig gewartet, einen Strauß Buschwindröschen in der Hand. Es war ein Getümmel gewesen wie auf einem Volksfest und dann hatte der fremde Mann plötzlich vor ihr gestanden und sie mit strengem Blick gemustert.
„Mit dir kam der Krieg“ schienen diese Augen damals schon zu sagen, obwohl kein Wort über seine Lippen kam. „Sieh an was er aus mir gemacht hat.“
Der Vater sagte nichts. Auch zu Hause nicht, am Küchentisch, als er sich umgeschaut und gesetzt hatte und das Essen verschlang, das die Mutter gekocht hatte, ein zerkochter Schweinebraten, wer weiß, wo sie den aufgetrieben hatte.
Die Mutter war es auch gewesen, die versucht hatte, das Schweigen zu brechen, an diesem Tag und an den folgenden. Und tatsächlich fanden die Eltern auch Dinge, über die sie reden konnten, meist kleine alltägliche Absprachen. Der Krieg und seine Erlebnisse gehörten nicht zu den Themen, über die gesprochen wurde. Auf diesem Ohr blieb der Vater taub und stumm.
Dann waren kurz hintereinander ihre drei jüngeren Geschwister zur Welt gekommen, die lösten die Zunge des Vaters auf ihre Weise, denn mit ihnen konnte er unglaublich albern herum schäkern.
„Mit dir kam der Krieg." Der Krieg hatte dem Vater die Sprache verschlagen. Er hatte ihn taub und stumm gemacht. Später änderte sich das ein wenig. Da kamen einzelne Geschichten. Nicht viele. Es waren vielleicht drei oder vier. Eine handelte von einem verirrten Huhn, das er und drei Kameraden mit bloßen Händen und angeblich unter Einsatz ihres Lebens gefangen und über einem offenen Feuer gegrillt und verzehrt hatten. Nichts Schlimmes. Sie waren belanglos, diese Geschichten, aber sie wurden immer wieder erzählt, bis sie eine feste, geronnene Form angenommen hatten. Sie waren der einzige Kanal. Durch sie floss der Krieg aus ihm heraus. Was wirklich war, davon schwiegen diese Geschichten.
Sie sah wieder zur Kanzel, schalt sich selber taub und wollte doch hören, was die Pfarrerin zu sagen hatte, um endlich auf andere Gedanken zu kommen. Ein wenig verwundert stellte sie fest, dass die Predigt trotz ihres Gedankenausflugs anscheinend noch nicht viel weiter gekommen war, denn die Worte fügten sich nahtlos an die Stelle, bei der sie ausgestiegen war: "Und Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: „Hefata, das heißt: Tu dich auf!“
Wie oft hatte sie versucht, den Vater beiseite zu nehmen. Weil mit ihr der Krieg gekommen war, fühlte sie sich dafür verantwortlich, ihn auch aus den Gedanken des Vaters zu vertreiben und ihn davon zu befreien. Wenn er auf Familienfesten seine 4 Kriegsgeschichten erzählte, die auch die anderen längst kannten, hörte sie ihm geduldig zu und lenkte ihn ab von denen, die schon mit den Augen rollten. Sie wusste, dass er in der Öffentlichkeit nicht anders konnte.
Aber unter vier Augen. Da hatte sie es nicht gelten lassen. Da wollte sie es wissen. „Was hast du wirklich erlebt damals?” Sie hatte ihn direkt konfrontiert, ihn mit Fragen bombardiert, und als das nichts fruchtete, hatte sie versucht, an seine Geschichten anzudocken und ihm irgendetwas zu entlocken.
So wie Jesus in der Geschichte hatte sie den Finger auf die Wunden gelegt, dass es schmerzte, aber es hatte nichts genützt. Sie war nur auf taube Ohren und einen stummen Mund gestoßen. Das Zauberwort, das Hefata, hatte sie nicht getroffen, das die Fesseln gelöst und den Himmel aufgeschlossen hätte.
Aber sie hatte nicht locker gelassen. Eine Therapie hatte sie dem Vater empfohlen, also gut, wenn du nicht mit mir reden willst, dann mit jemand Außenstehendem. Er war böse geworden, du glaubst wohl, ich bin nicht ganz richtig im Kopf. Dann hatten sie das Thema vermieden, viele Jahre lang, auch auf Bitten der Mutter, lass ihn doch, du regst ihn immer so auf.
„Und er gebot ihnen, sie sollten's niemand sagen. Je mehr er es aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.”
Irgendwann hatte sie ihren Widerstand aufgegeben.
Dann kam sein siebzigster Geburtstag. Da war sie 44 gewesen und frisch geschieden. Sie hatte eigentlich nicht kommen wollen, aber das konnte sie ihrem Vater doch nicht antun. Der wollte bei diesem Ereignis alle seine Kinder um sich haben. Auf den Ex-Schwiegersohn konnte man zur Not verzichten. Aber sie musste kommen.
Da saß sie mit ihren beiden Kindern auf dem Platz vor ihrem Namensschild und machte Konversation und gute Figur. Alle wussten, was Ios war. Keiner sagte etwas. Sie hüllten sich in Schweigen. Sie stellten sich taub. Wo sie sich dazu stellte, verstummten die Gespräche und wechselten das Thema, man konnte ja über so vieles reden, ohne was zu sagen. Und sie spielte das Spiel den ganzen Abend lang mit, verfolgt von mitleidigen Blicken im Rücken.
„Opa wird siebzig, freut euch, ihr Leut!” Der Chor der versammelten Enkelschar hatte damals alle zu Tränen gerührt.
„Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.”
Wann hatte sie das letzte Mal richtig geredet? Nicht um den heißen Brei herum, nicht in den erwarteten Floskeln und nach den ungeschriebenen Gesetzen des Smalltalks? Sie hatte sich Fesseln anlegen lassen, und ihre Zunge hatte im Lauf der Jahre nur noch gesagt, was alle hören wollten.
Aber vor ein paar Wochen, da hatte sie sich richtig gestritten. Mit ihren Geschwistern. Vor allem mit der jüngsten Schwester. Da war sie richtig laut geworden. Es ging um ihren Geburtstag. Sie wollte den Vater dabeihaben. Der lebte mit seinen 96 Jahren schon lange in einem Altenheim. Körperlich hätte man ihn durchaus als rüstig bezeichnen können, aber er war völlig dement, erkannte keines seiner Kinder und redete nur unzusammenhängendes und wirres Zeug. Gelegentlich holte sie ihn zu einem Spaziergang ab und schob ihn im Rollstuhl durch die Straßen. Am liebsten ging er mit zum Entenfüttern am Teich und warf dort mit großer Begeisterung trockenes Brot ins Wasser, ganz so wie ihre Enkelkinder.
„Den kannst du doch nicht allen Ernstes vorführen wollen”, hatte ihre Schwester ihr an den Kopf geworfen. Sie hatte mit großer Geste angeführt, ihn schützen zu wollen.
„In Wirklichkeit willst du dich doch nur selber schützen”, hatte sie geantwortet, und sie waren aneinandergeraten und im Unfrieden geschieden.
Seit sie aus Neugierde das Buch von Tilmann Jens über seinen Vater gelesen hatte, nagte die Frage an ihr, ob auch der eigene Vater sich vor den verdrängten und nicht beantworteten Fragen seines Lebens in die Demenz geflüchtet hatte.
Es war schon gleich nach dem Tod der Mutter losgegangen. Die hatte ihn immer in Schutz genommen vor der Welt. Ohne sie war er schutzlos. Da waren seine Ohren und seine Zunge auf ganz neue Weise taub und stumm geworden. Sie mussten diese Welt nicht mehr verstehen und sie nicht mehr deuten. Er lebte in seiner eigenen Welt.
„Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.”
Verwundert hörte sie die Worte. Wieder war sie abgeschweift und hatte dabei das Wunder verpasst. Das Wunder, das Jesus an dem taubstummen Mann vollbracht hatte. Da hatte sich der Himmel aufgetan.
Ihr war das nicht geglückt. Sie hatte ihren Vater nicht zum Reden bewegt, als er noch hören konnte. Und später hatte sie sich den Mund verbieten lassen.
Amen.
Jetzt war die Predigt vorbei. Sie hatte gar nicht richtig zugehört. Aber sie war sich plötzlich sicher, dass sie eine Rede halten wollte, übermorgen, an ihrem siebzigsten Geburtstag.
Richtig reden wollte sie. Und es nicht den anderen überlassen.
Und ihren Vater würde sie auch holen. Er sollte es auch hören.
In ihrem Kopf nahmen erste Formulierungen Gestalt an. Dann stand sie auf, und der Pfarrer sprach den Segen. Sie hörte genau hin. Sie verstand jedes Wort. Sie sprach am Ende leise mit: Amen!