03.09.2023 - Unser Kainsmal - Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis zu 1. Mose 4, 1-16 von Pfarrer R. Koller

Die ersten Geschichten der Bibel, genauer gesagt: die Geschichten von der Erschaffung der Welt, von Adam und Eva, Kain und Abel, von der Sintflut und dem Turmbau zu Babel im 1.Mose 1-11gehören für mich immer wieder zu den spannendsten Geschichten der Bibel - einfach weil man mit ihnen nicht an ein Ende kommt. Und das ist durchaus so gewollt - erzählen sie doch Grundsätzliches und Wesentliches: über den Menschen, über Gott und über unsere Welt, wie sie ist. Freilich, nicht nur die großen Themen sind es, die diese Geschichten spannend machen. Es sind auch die Einzelheiten! Und so möchte ich heute mit Ihnen einer solchen Geschichte im Detail nachgehen. Es ist die Geschichte von Kain und Abel 1.Mose 4:

[1] Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. [2] Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. [3] Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. [4] Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, [5] aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. [6] Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? [7] Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. [8] Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. [9] Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? [10] Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. [11] Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. [12] Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. [13] Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. [14] Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. [15] Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. [16] So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Und Adam erkannte seine Frau Eva - Der Mensch „erkennt" sein Weib und sie gebiert den ersten Sohn. Es ist eine Keuschheit der Sprache, die das hebr. Wort „jada“ („erkennen“) hier und anderwärts zur Bezeichnung des geschlechtlichen Verkehrs einsetzt. Freilich dieses Wort, das neben dem Erkennen im intellektuellen Sinn zugleich den Begriff des Erfahrens, des Vertraut-Seins mit umschließt, war zu solcher verhüllenden Rede­weise besonders geeignet.

Kain, der Name des Erstgeborenen, bedeutet Lanze (2. Sam. 21,16) und ist auch im Früharabischen als Personenname bezeugt. …

Dann wird dem Kain ein Bruder geboren, der den Namen „häbäl“ = „Abel" erhält. Eine Erklärung dieses Namens wird nicht gegeben; jedoch jeder, der ihn hört, denkt an das andere hebräische Wort häbäl = „Hauch", „Nichtigkeit" und nimmt diesen Klang als eine düstere Anspie­lung auf das Folgende.

Dieser Abel war ein Hirt, Kain aber ein Ackerbauer. So beginnt also die so folgenschwere Aufspaltung der Menschheit in einzelne Berufe mit ganz verschiedener Lebenshaltung. Wie tief diese Aufspaltung ist, dass sie zu den beiden Altären führt und dass mit ihr in Wirklichkeit ein Zerbrechen der Bruderschaft der Menschheit Hand in Hand geht, das alles bleibt vorläufig noch verborgen.

 

Nun opfern die beiden. Die Heilige Schrift bewegt hier keinerlei kultisches Interesse, so wird ziemlich beiläufig vom ersten Opfer berichtet; man erfährt weder wie es dazu kam (auf Grund welcher Einsetzung), noch was für eine Opfer-Art es war. Aber was sie opfern, und dass jeder getrennt vom andern der Gottheit seine Verehrung bekundet, soll der Leser aufmerksam hören und darin beunruhigende Zeichen er­kennen.

Der Hirt opfert von seiner Herde, der Bauer von dem Ertrag der Erde; scheinbar alles ganz naheliegend! Und doch, die Verschiedenheit des Lebensstandes der beiden ist nichts Äußerliches, sondern geht so tief, dass sie sich bis in die Be­sonderheiten der religiösen Betätigungen hinein auswirkt. Der Kultus gehört mit der Kultur aufs engste zusammen, und jede Kultur lässt Kultus auf eigene Weise aus sich heraus entstehen. So kam es zu der Mehrzahl von Altären!

Und nun ist weiter ge­sagt, dass Gott nicht auf beide Opfer, sondern nur auf das Opfer Abels sah.

 

Man hat eifrig nach einem Grund für diese Bevorzugung gesucht, aber er liegt weder im Rituellen noch in der Gesinnung Kains. Es ist nichts dergleichen angedeutet.

Offenbar liegt dem Erzähler daran, die Annahme des Opfers ganz in den freien Willen Gottes hinaus zu verlegen. Er verzichtet darauf, die Entscheidung für Abel und gegen Kain logisch verständ­lich zu machen - ganz nach dem Gotteswort in 2. Mose 33.19: „Ich erweise Gnade, wem ich gnädig bin, und erzeige Barmherzig­keit, wessen ich mich erbarme“.

Die Erzählung ist derart knapp und drängt so ungestüm auf die Katastrophe zu, dass sie auch dem notwendigen erklärenden Beiwerk keinen Raum gibt. So erfährt man ja auch nicht, auf welche Weise denn Kain von diesem Urteil Gottes Kenntnis bekommen habe.

Und was tut Kain?

Wir sollten besser fragen: Was tut er nicht? Seine Enttäuschung, sein Nichtverstehen, diese Warum-Frage und seine Gekränktheit über die Bevorzugung des Abel - er schreit sie nicht heraus! Er stellt Gott nicht zur Rede! Er klagt ihn nicht an, wie es ein Hiob tat! Stattdessen senkt er den Blick und frisst es in sich hinein… bis ihn schließlich der Hass auf seinen Bruder auffrisst!

 

Heißer Groll war in Kain aufgestiegen, der ihn bis ins Körperliche hinein entstellt hatte. Er neidet dem Bruder das freundliche Angesicht Gottes.

Auf diese Veränderung seines Wesens und die Gefahr dieser im Her­zen gärenden Sünde redet ihn Gott warnend an. Es ist eine väterliche Rede, die, ehe es zu spät ist, dem Bedrohten einen Rückweg zeigen möchte. Man sieht, Kain war, wenn auch dieses sein Opfer nicht angenommen wurde, damit nicht end­gültig verworfen. Besonders eindringlich ist der Appell an das Einverständnis bei Kain: Ist's nicht also? Gott knüpft also noch an die bessere Regung im menschlichen Herzen an: „Wenn du gut tust, ist Erhebung", d.h. kannst du dein Angesicht frei aufheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“

 

Der Weg von der inneren Regung zu der Tat ist nur ein ganz kurzer. Aber der Satz redet nicht eigentlich von einer innerlichen Regung, sondern er zeigt die Sünde als eine objektive Macht, die gleichsam außerhalb und über dem Menschen steht, die gierig von ihm Besitz ergreifen will; er aber soll sie beherrschen und niederhalten. Seine Verantwortlichkeit der Sünde gegenüber ist also keineswegs aufgehoben; im Gegenteil, ihm wird durch diesen letzten Imperativ die ganze Verantwortung aufgebürdet: „du aber herrsche über sie!“

 

„Lass uns aufs Feld gehen!"  Und nun kommt es zum ersten Mord - um Gottes willen! Der Satz ist von lapidarer Kürze und Sachlichkeit; aber damit hat die Heilige Schrift dem Grauenvollen den allein an­gemessenen Ausdruck gegeben.

 

Wie in der Sündenfallgeschichte, so ist auch hier Gott sofort nach der Tat zur Stelle. Aber die Frage Gottes an den Menschen lautet jetzt nicht „Wo bist du, Adam?", sondern „Wo ist dein Bruder, Kain?". Die Verantwortung vor Gott ist die Verantwortung für den Bruder: Die Gottesfrage stellt sich jetzt als soziale Frage.

Aber Kain entledigt sich dieser schwersten Frage, die ihm zu einer bekennenden Antwort gnadenhaft Raum bot , durch einen frechen Witz: Soll ich den Hirten hüten? Er lügt Gott frech ins Angesicht, ist also viel verhärteter als das erste Menschenpaar. Ein Verhör ist nicht möglich, aber die Heilige Schrift wagt es, in dem Ausruf „Was hast du getan!" Gottes Entsetzen über diese Tat aufs mensch­lichste zum Ausdruck zu bringen.

Und dann erfährt Kain etwas, das er vorher nicht in Rechnung gezogen hat: Die Leiche war wohl verscharrt worden, aber das Blut des Gemordeten hat einen Klageschrei erhoben, und dieser Zeter-Ruf ist sogleich vor Gottes Thron gekommen. Der hebräische Ausdruck „schreien", „Geschrei" ist das, was das altdeutsche Recht unter dem Zeter-Ruf versteht: der Appell an den Rechtsschutz!

Blut und Leben gehören nach alttestamentlicher Anschauung allein Gott; wo gemordet wird, da greift der Mensch in Gottes eigenstes Besitzrecht ein. Leben zu verderben, geht weit über die Zuständigkeit des Menschen hinaus. Und vergossenes Blut lässt sich nicht zuschaufeln, es schreit zum Himmel empor und erhebt sofort vor dem Herrn des Lebens seine Klage.

 

Wunderbar ist in diesem Satz jenes dunkle Urge­fühl des Schauders vor vergossenem Blut verbunden mit dem reifsten Glauben an Gott als den Beschützer und Wächter über allem Leben.

Furchtbarer als die Strafworte in Kap. 3 ist Gottes Richterspruch über den Brudermörder: Etwas nie wieder gut zu Machendes, etwas das der antike Mensch viel un­heimlicher empfand, war geschehen: die Erde, die mütterliche Lebensgrundlage des Menschen, hatte Bruderblut getrunken. Hier setzt die Strafe ein: Kain wird von der Ackererde verwiesen, die Erde selber soll ihm ihre Segenskraft vorenthalten.

Die Strafe geht über die gegen Adam und Eva verhängte weit hinaus. Das Verhältnis des Brudermörders zur mütterlichen Scholle ist tiefer gestört; ja es ist so zerrüttet, dass ihm die Erde heimatlos wird. Was ihm noch bleibt, ist ein unstetes und flüchtiges Leben.

 

Wie in der Paradiesgeschichte, so zieht sich auch hier der Gedanke an die Erde als das elementarste Fundament alles menschlichen Daseins durch die Erzählung. Den Acker hat Kain bebaut, des Ackers Früchte dargebracht, dem Acker Bruderblut zu trinken gegeben; aber vom Acker her klagt das Blut ihn an, darum verweigert der Acker ihm seine Frucht, so wird er vom Acker verbannt.

Unter der Wucht dieses Fluches bricht Kain zusammen, freilich nicht nur in Reue; Es ist ein Aufschrei des Entsetzens über den Ausblick auf ein solches Leben der Unrast und des friedlosen Gehetzt-Seins. Kain übersieht sofort: ein Leben fern von Gott ist ein Leben, das Gott nicht mehr schützt. Hat einmal Gott seine Hand von ihm abgezogen, so werden

alle über ihn herfallen.

 

Die Erzählung schließt aber überraschenderweise nicht mit diesem Bild des gerichteten Brudermörders. Ja, es muss sogar gesagt werden, dass sie jetzt erst auf ihr Wichtigstes zukommt: Das letzte Wort in dieser Geschichte hat nicht Kain, sondern Gott, der nun das verwirkte Leben Kains unter strengen Schutz stellt. Das Zeichen hat Jahwe doch offenbar an Kains Körper angebracht; die Heilige Schrift scheint hier an eine Tätowierung oder etwas Ähnliches zu denken. Dieses Zeichen soll ihn aber nicht schänden, sondern ein Hinweis sein auf jenes geheimnisvolle Schutzverhältnis, in dem Kain fortan von Gott gehalten wird.

 

Der Abschluss der Geschichte, demzufolge Kain dann fortgezogen sei, „weg vom Angesicht Gottes", verschärft vollends das Rätsel seiner nunmehrigen Existenz: Um seines Mordes willen unter dem Fluch der Gottesferne und doch unbegreiflicherweise bewacht und getragen von Gottes Schutz. Auch dieses Leben gehört noch Gott und ist von ihm nicht preisgegeben. Ein Land Nod ist uns geographisch nicht bekannt; wich­tiger ist, dass der Hebräer in dem Namen sein Wort nad „flüchtig" (V. 12!) wiederfand. Es ist also das Land der Ruhelosigkeit.

 

Finden wir das Rätsel unserer eigenen Existenz durch diese Geschichte nicht auch zum Schwingen gebracht? Wer von uns kann sagen, dass er im Herzen nicht schon einmal zum Kain geworden ist? Wer hat sich nicht schon einmal im Leben benachteiligt gefühlt oder gar ungeliebt…vom Schicksal, von Gott. Wer hat nicht schon jene Bitterkeit geschmeckt, die einfach kurzen Prozess machen will? Wer hat sich nicht schon am Leben vergangen, so dass das Gewissen einem keine Ruhe mehr lässt, ständig auf der Flucht?

Wir alle tragen das Kainsmal!

Wir alle sind Sünder, sagt auch der Apostel Paulus. Freilich, unser Kainsmal ist uns schon bei der Taufe auf die Stirn gemalt worden: das Kreuz! Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde verurteilt. Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde aber auch trägt – für uns! Und des Sünders Leben will.

Amen.

Die ersten Geschichten der Bibel, genauer gesagt: die Geschichten von der Erschaffung der Welt, von Adam und Eva, Kain und Abel, von der Sintflut und dem Turmbau zu Babel im 1.Mose 1-11gehören für mich immer wieder zu den spannendsten Geschichten der Bibel - einfach weil man mit ihnen nicht an ein Ende kommt. Und das ist durchaus so gewollt - erzählen sie doch Grundsätzliches und Wesentliches: über den Menschen, über Gott und über unsere Welt, wie sie ist. Freilich, nicht nur die großen Themen sind es, die diese Geschichten spannend machen. Es sind auch die Einzelheiten! Und so möchte ich heute mit Ihnen einer solchen Geschichte im Detail nachgehen. Es ist die Geschichte von Kain und Abel 1.Mose 4:

[1] Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. [2] Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. [3] Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. [4] Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, [5] aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. [6] Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? [7] Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. [8] Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. [9] Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? [10] Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. [11] Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. [12] Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. [13] Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. [14] Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. [15] Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. [16] So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Und Adam erkannte seine Frau Eva - Der Mensch „erkennt" sein Weib und sie gebiert den ersten Sohn. Es ist eine Keuschheit der Sprache, die das hebr. Wort „jada“ („erkennen“) hier und anderwärts zur Bezeichnung des geschlechtlichen Verkehrs einsetzt. Freilich dieses Wort, das neben dem Erkennen im intellektuellen Sinn zugleich den Begriff des Erfahrens, des Vertraut-Seins mit umschließt, war zu solcher verhüllenden Rede­weise besonders geeignet.

Kain, der Name des Erstgeborenen, bedeutet Lanze (2. Sam. 21,16) und ist auch im Früharabischen als Personenname bezeugt. …

Dann wird dem Kain ein Bruder geboren, der den Namen „häbäl“ = „Abel" erhält. Eine Erklärung dieses Namens wird nicht gegeben; jedoch jeder, der ihn hört, denkt an das andere hebräische Wort häbäl = „Hauch", „Nichtigkeit" und nimmt diesen Klang als eine düstere Anspie­lung auf das Folgende.

Dieser Abel war ein Hirt, Kain aber ein Ackerbauer. So beginnt also die so folgenschwere Aufspaltung der Menschheit in einzelne Berufe mit ganz verschiedener Lebenshaltung. Wie tief diese Aufspaltung ist, dass sie zu den beiden Altären führt und dass mit ihr in Wirklichkeit ein Zerbrechen der Bruderschaft der Menschheit Hand in Hand geht, das alles bleibt vorläufig noch verborgen.

 

Nun opfern die beiden. Die Heilige Schrift bewegt hier keinerlei kultisches Interesse, so wird ziemlich beiläufig vom ersten Opfer berichtet; man erfährt weder wie es dazu kam (auf Grund welcher Einsetzung), noch was für eine Opfer-Art es war. Aber was sie opfern, und dass jeder getrennt vom andern der Gottheit seine Verehrung bekundet, soll der Leser aufmerksam hören und darin beunruhigende Zeichen er­kennen.

Der Hirt opfert von seiner Herde, der Bauer von dem Ertrag der Erde; scheinbar alles ganz naheliegend! Und doch, die Verschiedenheit des Lebensstandes der beiden ist nichts Äußerliches, sondern geht so tief, dass sie sich bis in die Be­sonderheiten der religiösen Betätigungen hinein auswirkt. Der Kultus gehört mit der Kultur aufs engste zusammen, und jede Kultur lässt Kultus auf eigene Weise aus sich heraus entstehen. So kam es zu der Mehrzahl von Altären!

Und nun ist weiter ge­sagt, dass Gott nicht auf beide Opfer, sondern nur auf das Opfer Abels sah.

 

Man hat eifrig nach einem Grund für diese Bevorzugung gesucht, aber er liegt weder im Rituellen noch in der Gesinnung Kains. Es ist nichts dergleichen angedeutet.

Offenbar liegt dem Erzähler daran, die Annahme des Opfers ganz in den freien Willen Gottes hinaus zu verlegen. Er verzichtet darauf, die Entscheidung für Abel und gegen Kain logisch verständ­lich zu machen - ganz nach dem Gotteswort in 2. Mose 33.19: „Ich erweise Gnade, wem ich gnädig bin, und erzeige Barmherzig­keit, wessen ich mich erbarme“.

Die Erzählung ist derart knapp und drängt so ungestüm auf die Katastrophe zu, dass sie auch dem notwendigen erklärenden Beiwerk keinen Raum gibt. So erfährt man ja auch nicht, auf welche Weise denn Kain von diesem Urteil Gottes Kenntnis bekommen habe.

Und was tut Kain?

Wir sollten besser fragen: Was tut er nicht? Seine Enttäuschung, sein Nichtverstehen, diese Warum-Frage und seine Gekränktheit über die Bevorzugung des Abel - er schreit sie nicht heraus! Er stellt Gott nicht zur Rede! Er klagt ihn nicht an, wie es ein Hiob tat! Stattdessen senkt er den Blick und frisst es in sich hinein… bis ihn schließlich der Hass auf seinen Bruder auffrisst!

 

Heißer Groll war in Kain aufgestiegen, der ihn bis ins Körperliche hinein entstellt hatte. Er neidet dem Bruder das freundliche Angesicht Gottes.

Auf diese Veränderung seines Wesens und die Gefahr dieser im Her­zen gärenden Sünde redet ihn Gott warnend an. Es ist eine väterliche Rede, die, ehe es zu spät ist, dem Bedrohten einen Rückweg zeigen möchte. Man sieht, Kain war, wenn auch dieses sein Opfer nicht angenommen wurde, damit nicht end­gültig verworfen. Besonders eindringlich ist der Appell an das Einverständnis bei Kain: Ist's nicht also? Gott knüpft also noch an die bessere Regung im menschlichen Herzen an: „Wenn du gut tust, ist Erhebung", d.h. kannst du dein Angesicht frei aufheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“

 

Der Weg von der inneren Regung zu der Tat ist nur ein ganz kurzer. Aber der Satz redet nicht eigentlich von einer innerlichen Regung, sondern er zeigt die Sünde als eine objektive Macht, die gleichsam außerhalb und über dem Menschen steht, die gierig von ihm Besitz ergreifen will; er aber soll sie beherrschen und niederhalten. Seine Verantwortlichkeit der Sünde gegenüber ist also keineswegs aufgehoben; im Gegenteil, ihm wird durch diesen letzten Imperativ die ganze Verantwortung aufgebürdet: „du aber herrsche über sie!“

 

„Lass uns aufs Feld gehen!"  Und nun kommt es zum ersten Mord - um Gottes willen! Der Satz ist von lapidarer Kürze und Sachlichkeit; aber damit hat die Heilige Schrift dem Grauenvollen den allein an­gemessenen Ausdruck gegeben.

 

Wie in der Sündenfallgeschichte, so ist auch hier Gott sofort nach der Tat zur Stelle. Aber die Frage Gottes an den Menschen lautet jetzt nicht „Wo bist du, Adam?", sondern „Wo ist dein Bruder, Kain?". Die Verantwortung vor Gott ist die Verantwortung für den Bruder: Die Gottesfrage stellt sich jetzt als soziale Frage.

Aber Kain entledigt sich dieser schwersten Frage, die ihm zu einer bekennenden Antwort gnadenhaft Raum bot , durch einen frechen Witz: Soll ich den Hirten hüten? Er lügt Gott frech ins Angesicht, ist also viel verhärteter als das erste Menschenpaar. Ein Verhör ist nicht möglich, aber die Heilige Schrift wagt es, in dem Ausruf „Was hast du getan!" Gottes Entsetzen über diese Tat aufs mensch­lichste zum Ausdruck zu bringen.

Und dann erfährt Kain etwas, das er vorher nicht in Rechnung gezogen hat: Die Leiche war wohl verscharrt worden, aber das Blut des Gemordeten hat einen Klageschrei erhoben, und dieser Zeter-Ruf ist sogleich vor Gottes Thron gekommen. Der hebräische Ausdruck „schreien", „Geschrei" ist das, was das altdeutsche Recht unter dem Zeter-Ruf versteht: der Appell an den Rechtsschutz!

Blut und Leben gehören nach alttestamentlicher Anschauung allein Gott; wo gemordet wird, da greift der Mensch in Gottes eigenstes Besitzrecht ein. Leben zu verderben, geht weit über die Zuständigkeit des Menschen hinaus. Und vergossenes Blut lässt sich nicht zuschaufeln, es schreit zum Himmel empor und erhebt sofort vor dem Herrn des Lebens seine Klage.

 

Wunderbar ist in diesem Satz jenes dunkle Urge­fühl des Schauders vor vergossenem Blut verbunden mit dem reifsten Glauben an Gott als den Beschützer und Wächter über allem Leben.

Furchtbarer als die Strafworte in Kap. 3 ist Gottes Richterspruch über den Brudermörder: Etwas nie wieder gut zu Machendes, etwas das der antike Mensch viel un­heimlicher empfand, war geschehen: die Erde, die mütterliche Lebensgrundlage des Menschen, hatte Bruderblut getrunken. Hier setzt die Strafe ein: Kain wird von der Ackererde verwiesen, die Erde selber soll ihm ihre Segenskraft vorenthalten.

Die Strafe geht über die gegen Adam und Eva verhängte weit hinaus. Das Verhältnis des Brudermörders zur mütterlichen Scholle ist tiefer gestört; ja es ist so zerrüttet, dass ihm die Erde heimatlos wird. Was ihm noch bleibt, ist ein unstetes und flüchtiges Leben.

 

Wie in der Paradiesgeschichte, so zieht sich auch hier der Gedanke an die Erde als das elementarste Fundament alles menschlichen Daseins durch die Erzählung. Den Acker hat Kain bebaut, des Ackers Früchte dargebracht, dem Acker Bruderblut zu trinken gegeben; aber vom Acker her klagt das Blut ihn an, darum verweigert der Acker ihm seine Frucht, so wird er vom Acker verbannt.

Unter der Wucht dieses Fluches bricht Kain zusammen, freilich nicht nur in Reue; Es ist ein Aufschrei des Entsetzens über den Ausblick auf ein solches Leben der Unrast und des friedlosen Gehetzt-Seins. Kain übersieht sofort: ein Leben fern von Gott ist ein Leben, das Gott nicht mehr schützt. Hat einmal Gott seine Hand von ihm abgezogen, so werden

alle über ihn herfallen.

 

Die Erzählung schließt aber überraschenderweise nicht mit diesem Bild des gerichteten Brudermörders. Ja, es muss sogar gesagt werden, dass sie jetzt erst auf ihr Wichtigstes zukommt: Das letzte Wort in dieser Geschichte hat nicht Kain, sondern Gott, der nun das verwirkte Leben Kains unter strengen Schutz stellt. Das Zeichen hat Jahwe doch offenbar an Kains Körper angebracht; die Heilige Schrift scheint hier an eine Tätowierung oder etwas Ähnliches zu denken. Dieses Zeichen soll ihn aber nicht schänden, sondern ein Hinweis sein auf jenes geheimnisvolle Schutzverhältnis, in dem Kain fortan von Gott gehalten wird.

 

Der Abschluss der Geschichte, demzufolge Kain dann fortgezogen sei, „weg vom Angesicht Gottes", verschärft vollends das Rätsel seiner nunmehrigen Existenz: Um seines Mordes willen unter dem Fluch der Gottesferne und doch unbegreiflicherweise bewacht und getragen von Gottes Schutz. Auch dieses Leben gehört noch Gott und ist von ihm nicht preisgegeben. Ein Land Nod ist uns geographisch nicht bekannt; wich­tiger ist, dass der Hebräer in dem Namen sein Wort nad „flüchtig" (V. 12!) wiederfand. Es ist also das Land der Ruhelosigkeit.

 

Finden wir das Rätsel unserer eigenen Existenz durch diese Geschichte nicht auch zum Schwingen gebracht? Wer von uns kann sagen, dass er im Herzen nicht schon einmal zum Kain geworden ist? Wer hat sich nicht schon einmal im Leben benachteiligt gefühlt oder gar ungeliebt…vom Schicksal, von Gott. Wer hat nicht schon jene Bitterkeit geschmeckt, die einfach kurzen Prozess machen will? Wer hat sich nicht schon am Leben vergangen, so dass das Gewissen einem keine Ruhe mehr lässt, ständig auf der Flucht?

Wir alle tragen das Kainsmal!

Wir alle sind Sünder, sagt auch der Apostel Paulus. Freilich, unser Kainsmal ist uns schon bei der Taufe auf die Stirn gemalt worden: das Kreuz! Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde verurteilt. Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde aber auch trägt – für uns! Und des Sünders Leben will.

Amen.