29.10.2023 - Gedanken des Friedens - Predigt mit Jer. 29. 1, 4-7, 10-14 am 21. Sonntag nach Trinitatis von Pfarrer R. Koller

Trotz ihres hohen Alters war sie noch gut auf den Beinen. Mit uns Besuchern stieg sie die Katakomben der St. Peter-und-Paul-Kirche in St. Petersburg hinunter, vorbei an Kachelwänden und dicken Betonböden – jenen stummen Zeugen der Vergewaltigung dieser Kirche …und Ihrer Gemeinde! Margarete Schulmeisters Stimme war immer noch klar und fest. Immerhin ist sie Lehrerin gewesen und auch heute verdient sie sich noch ein kleines Zubrot mit Unterrichten. Sie erzählte uns die Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinde in St. Petersburg, die Ende des 19. Jahrhunderts ca. 150.000 deutsche Gemeindeglieder zählte. Im Gefolge der russischen Revolution 1917 wurden sie alle in Straflager nach Sibirien verbannt. Und die St. Peter-und-Paul-Kirche wurde umgebaut in ein Schwimmbad.

Darunter, in den Katakomben hat ein Russland-Deutscher Verbannung und Exil in mehreren eindrücklichen Bildern mannshoch an den Wänden festgehalten: die sofortige Erschießung des Pfarrers und seiner Frau; den „Abriss“ der Kirche und die Entfernung ihres Kreuzes; die Verladung auf vollgepferchte Waggons; die Mütter, die während des Transports ihre kranken Kinder einfach neben den Schienen „ablegen“ mussten; das Arbeitslager in sibirischer Kälte von - 40 Grad; die 12 Stunden täglicher Arbeit und der ständige Hunger! Als Margarete Schulmeister von den „abgelegten“ Kindern erzählte, stockte ihre Stimme. Während dieser wenigen Sekunden wuchs in mir eine annähernde Vorstellung davon, welche furchtbaren Tragödien sich hinter Worten wie „Verbannung“ und „Exil“ abspielen.

 

„Sie saßen an den Wassern von Babylon und weinten.“ Aus der Zeit von Verbannung und Exil stammt auch unser heutiger Predigttext. Die Tragödien, die sich damals in Israel abgespielt haben, können wir heute nur annähernd erahnen: Krieg im eigenen Land, in der eigenen Stadt, Tote, schreiende Verwundete, Hinrichtungen, Zerstörungen… all das kennen wir in Deutschland Gott sei Dank seit vielen Jahrzehnten nicht mehr! - Und sehen es mit Erschrecken doch heute wieder in der Ukraine und an so vielen anderen Orten dieser Welt!

Für das Volk Israel war es damals, 596 v. Chr. die größte denkbare Katastrophe überhaupt. Sie verloren alles: Ihre Freiheit, ihre Hauptstadt und damit ihre Eigenstaatlichkeit, ihren Tempel und damit ihren Glauben, ihre Heimat und damit ihre Wurzeln. Viele verloren ihr Leben. Und der Rest hatte auf den Hungermärschen ins Feindesland nur noch Schmerz und Verzweiflung im Herzen. Ja, „sie saßen an den Wassern von Babylon und weinten.“ Und die anderen fluchten: „Tochter Babylon, du Verwüsterin, wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert.“ So nachzulesen im Psalm 137. 8f!

 

Damals schrieb der Prophet Jeremia denen im fremden Land einen leidenschaftlichen, einen ungewöhnlichen Brief. Einen Trostbrief im besten Sinne! Einen Mut-Mach-Brief an seine verzweifelten und hoffnungsleeren Volksgenossen. Seine Zeilen sind - man höre und staune - eine Aufforderung zum radikalen Umdenken:

Jeremia 29,1.4-7.10-14:

1Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte…
4
So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl…
10
Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Ich habe in diesem Brief drei Entdeckungen gemacht.

Meine erste Entdeckung: Wir modernen Menschen tun uns schwer, zu verstehen, was es für den antiken Menschen bedeutete, wenn der Tempel zerstört wurde. Für das Volk Israel damals bedeutete die Zerstörung des salomonischen Tempels jedenfalls die Zerstörung des Heiligen selbst! Der Ort der Gegenwart Gottes war verloren gegangen! Wie erschütternd ein solcher Anblick sein kann, erahnte ich, als ich in St. Petersburg die zu einem Schwimmbad umgebaute Kirche von St. Peter und Paul gesehen habe.

Aber dass Gott nun auch ohne Tempel erfahren und verehrt werden kann, das war in Israel damals revolutionär! Dass Gott kein Provinzgott ist, sondern der Gott aller Menschen, überall! Kein nationaler, kein deutscher, kein amerikanischer oder russischer Gott. Nein, der eine Gott, der sich überall, an jedem Winkel dieser Erde suchen und finden lassen will!

Unwillkürlich steigt jenes Bild vor meinen Augen auf, das jener Russlanddeutsche in den Katakomben der St. Peter und Paul Kirche gemalt hat: Wie abgehungerte Gestalten heimlich im sibirischen Strafgefangenenlager - ohne Pfarrer - das Abendmahl feierten.

Meine zweite Entdeckung: Jeremia setzt an die Stelle von Hass, Zorn und Rache der Verbitterten die Liebe zu denen, die ihre bittere Lage verursacht haben: „Betet für das Glück Babylons und kümmert euch um ihr Wohlergehen.“ Liebe als Feindesliebe - eine revolutionäre Botschaft, die auch uns Heutige direkt zu unserem Herrn Jesus Christus führt. Liebet eure Feinde! Christus hat es uns vorgelebt. Er hat uns dabei nicht unbedingt Erfolg versprochen, aber dafür Reichtum bei Gott und Schätze im Himmel.

 

Meine dritte Entdeckung: Jeremias Brief gibt eine lebendige Anschauung davon, dass Gottes Geist Nüchternheit und Realitätssinn bewirkt. Er rät, die Gegenwart, die Verbannung und das Exil anzunehmen. Und er warnt davor, sich Illusionen zu machen, auf billige Vertröster hereinzufallen oder sich in Nostalgie zu flüchten.

 

Mit diesen drei Entdeckungen wage ich jetzt Ungewöhnliches. Ich schlüpfe in die Rolle des Propheten und schreibe einen neuen Brief des Jeremia an uns heute. Und ich vertraue darauf, dass er nichts dagegen hätte.

„Liebe christliche Gemeinde, ich habe eine Botschaft für euch. Es ist jene, die ich meinen Landsleuten damals im Exil mit Herzblut und Leidenschaft in ihr Herz geschrieben habe.

Ihr habt den Eindruck, dass es schon länger bergab geht mit der Kirche. Vielleicht fühlt ihr euch mitunter als Babylon-Bürger im fremden Land. Der christliche Glaube wird zwar geduldet, aber mehr als Relikt vergangener Zeiten und als Angelegenheit von Sonderlingen, die nicht ganz auf der Höhe der Zeit sind. Vielleicht empfindet ihr das als Verbannung aus der Welt von früher, wo Glauben angeblich noch selbstverständlich war. Wo er angeblich das Leben bestimmte und angeblich Heimat war für alle.

Es wird viel darüber geschrieben und geredet, dass ihr eine aussterbende Spezies seid. In Familien wird kaum noch gebetet, selten überhaupt noch über Bibel und Glaube gesprochen. Kreuze sind längst aus den Klassenzimmern verbannt. Kirchenaustritte machen regelmäßig Schlagzeilen. Und ihr erlebt Gottesdienste in so mancher Kirche mit nur 10, vielleicht 20 Menschen, meist ältere und kaum junge. Und immer wieder hört ihr, wie darüber gespottet wird!

Ihr erlebt das als Verlust. Gerade die Älteren beklagen das.

Aber so erging es damals meinen Landsleuten auch, als der Tempelkult nach der Zerstörung des Tempels aufhörte. Ihr seid also nicht viel besser und nicht viel schlechter dran als sie. Damals habe ich die Verängstigten vor den Vertröstern gewarnt. Die redeten ein schnelles Ende ihres beklagenswerten Zustandes herbei. „Alles wird bald ein Ende haben.“ So streuten sie ihnen Sand in die Augen. Sie machten sich Illusionen. Und gaben ihre Stimme dazu noch als Gottes Stimme aus.

 

Euch sage ich: Das, was euch beunruhigt, wird anhalten! Es gibt kein Zurück auf dieser Welt. Misstraut denen, die euch mit frommen Sprüchen besänftigen wollen oder dauernd von den guten alten Zeiten reden, wo alles besser war. Sie gaukeln euch vor, dass alles bald wieder so sein kann, wie es früher war. Mit frommem Augenaufschlag, aber mit einer trügerischen Sicherheit.

Diese Sicherheit gibt es nicht, weil die Welt sich immer nach vorn bewegt. Wie damals sage ich zu euch im Namen Gottes: Bleibt nüchtern! Haltet eure Lage nicht nur aus, auch wenn es anstrengend ist, sondern macht euch nützlich! Mischt euch ein! Engagiert euch! Erhebt eure Stimme!

Sagt nie: Ich bin zu schwach. Ich alleine kann doch nichts ändern.

Sagt nie: Wir sind zu wenige. In jüdischer Tradition heißt es: Es genügen zwei, um eine Sache zu verändern. Denn ihr alle habt einen Auftrag und eine Aufgabe mit eurem Leben. Gott hat jeden von euch dazu erwählt und berufen, das Seine zu tun, was womöglich kein anderer kann.

Wie damals sage ich euch heute: Ihr sollt Kinder haben und mit ihnen leben! Es gibt zu viele, die meinen, in diese Welt könne man keine Kinder mehr setzen. Bedenkt: Jedes Kind, das geboren wird, ist ein göttliches Zeichen aus einer anderen Welt. Jedes Kind ist ein Bekenntnis zu der Hoffnung, dass unsere Erde nicht von uns ins Chaos gestürzt wird, sondern dass sie ein Ort bleiben kann, wo das Leben blühen darf in seiner ganzen Fülle und Vielfalt.

 

Ich sage zu euch, die ihr in Christus so viel Liebe erfahren habt, sodass ihr viel von der Feindesliebe versteht: Setzt euch für den Frieden ein, mit euren Möglichkeiten und in euren Grenzen. „Der Weltfriede fängt in den Herzen der Menschen an“, hat einmal ein kluger Mann gesagt. Nachzulesen auch beim Evangelisten Lk. im 6. Kapitel seines Evangeliums.

Das Herz steht für euren Willen und für euer Wollen. Also haltet und macht Frieden mit euren Gegnern, mit den Fremden bei euch und, so ihr habt, mit euren Feinden! Das ist die einzige Lebenschance in eurer so komplizierten und gefährdeten Welt.

Und lernt immer mehr, dass ihr Frieden nie gegen eure Feinde, sondern nur mit ihnen machen könnt. Ihr wisst ja: Auch beten könnt ihr nie gegen andere. Ihr betet immer nur für andere. Und wer für andere betet, handelt eben auch anders als sonst üblich.

 

Und zuletzt: Haltet an der Hoffnung fest! Klammert euch an sie, auch wenn ihr euch verloren vorkommt! Auch wenn ihr das Gefühl habt, Gott selbst sei ins Exil ausgewandert. Sagt nie: Ich habe keine Hoffnung mehr. Hoffnung ist eine Lebenskraft, die Gott nie garantiert und die ihr nie als Besitz habt. Ringt und betet um sie. Denn wie spricht Gott: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen. Denn ich habe Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, auf das ihr voller Sehnsucht wartet.“

Zum Schluss: Ihr sollt wissen, dass meine Landsleute dieses versprochene Ende ihres Exils nach 60 Jahren erlebt haben. Euer Jeremia.“

 

Nachwort: Nach 20 Jahren Verbannung in Sibirien durfte Margarete Schulmeister in ihre Heimat nach St. Petersburg zurückkehren. Vor erst 2 Jahren hat die damals 96-Jährige ihre Erfahrungen als Russlanddeutsche in einem Buch festgehalten. Der Titel: „20. Jahrhundert. Mein langer Weg.“

 

Mit ihrem aufrechten Gang in den Katakomben der St. Peter und Paul Kirche, mit ihrer festen und nur einmal stockenden Stimme und mit ihren leuchtenden Augen bei der gemeinsamen Abendmahlsfeier wird sie mir immer in Erinnerung bleiben als lebendige Zeugin von Glaube, von Liebe und einer Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt.