31.03.2024 - Maria! - Predigt am Ostersonntag zu Joh. 20, 11-18 von Pfarrer R.Koller

Wir feiern die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus heute nicht mit Pauken und Trompeten. Wir feiern sie heute eher leise mit dem Mystiker unter den Evangelisten: mit dem Johannesevangelium. Wir hören den Predigttext für den heutigen Ostersonntag:

11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab 12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. 15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. 16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! 17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. 18 Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.

Maria von Magdala steht draußen vor dem Grab Jesu. Sie trauert, weint. Sie erlebt, nein, sie erleidet das Gesetz des alles verschlingenden Todes. Des Todes, der so viele grausame Spielarten hat. Der uns so ohnmächtig macht, der uns schweigend schreien lässt und uns unsere Hilflosigkeit so gnadenlos vor Augen führt.

So mancher unter uns hat diese schreckliche Kränkung all seines Wollens und Machen-Könnens erlebt, am Krankenbett eines lieben Menschen, an seinem Sterbebett, am Grab und in der plötzlich leer gewordenen Wohnung.

„Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ - Ihre Erfahrung ist die Erfahrung so vieler Menschen. Abgeschnitten vom Leben zu sein, mit durchschnittener Verbindung zu dem Menschen, ohne den das Leben einfach nicht mehr vorstellbar ist. „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ -Tränen über Tränen und immer wieder die alte Frage „Warum?“ und „Wie soll es weitergehen?“

Maria ist zum Grab gebeugt. Ich sehe sie vor mir: gebückt und in sich gekrümmt, den Blick gesenkt, die Augen starr. Mit eingeschränkter Wahrnehmung und verdunkeltem Horizont. So sehen Augen, wenn das, was einen lebendig gemacht hat, abgestorben ist: alle Lebenskraft, alle Hoffnung, alles Glück. Und wenn nichts mehr zurückzuholen ist, nichts mehr zu machen ist. Wenn alle glückliche Vergangenheit nur noch eine einzige schmerzliche Erinnerung ist.

Ja, das tut weh, diese Ohnmacht, dieses „aus und vorbei“.

Maria erlebt das so. Sie sucht eine Geschichte, die vergangen ist. Ein für alle Mal.

Dabei war es doch ihre Geschichte! - Quälende Geister hatte Jesus von ihr ausgetrieben, sie von schlimmen Ängsten und von tiefen Zweifeln befreit. In seiner Nähe hatte sie sich verwandelt zu einer lebendigen, lebensfrohen Frau. Er hatte ihr alles gegeben: Heilung ihrer Zerrissenheit, Kraft und Lebensmut, ja, und auch wieder den Glauben an einen gütigen Gott. Sie war glücklich.

Und nun das Ende – und was für ein schreckliches am Kreuz! Am Kreuz und mit ihm starb alles: ihre Lebensfreude, ihre Kraft und auch ihr Glaube. Maria steht „draußen“. So wie trauernde Frauen und trauernde Männer, so wie trauernde Mütter und Väter, trauernde Töchter und Söhne „draußen“ stehen.

Und dann hat sie eine eigenartige Vision und innere Schau. Sie sieht zwei Engel!

Engel in der Heiligen Schrift sind Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Welt, zwischen Licht und innerer Finsternis. Sie sind keine Vermittler oder gar Garanten von Harmonie, von leichtem und glückseligem Leben. Manchmal sind Engel einfach nur stumm und wollen doch verstanden werden. Diese beiden Engel dagegen sprechen.

Sie sprechen die Frau an. Nicht mit Namen, noch nicht. Das bleibt Jesus allein vorbehalten. Engel, diese Lebensboten Gottes, sprechen meistens indirekt. Das heißt, ihre Worte warten auf die eigene Deutung, das eigene Verstehen, das eigene Erkennen. Das muss von uns selber kommen. Was aus dem Gehörten oder Gesehenen wird, liegt immer auch bei mir. Wir sind immer nach der eigenen Antwort gefragt.

„Frau, was weinst du?"

Und Maria antwortet. Zum ersten Mal findet sie Worte, durchbricht die Sprachlosigkeit und in ihre Starre kommt Bewegung. Mit der Klage lässt sie ihrem Schmerz und ihren Tränen endlich freien Lauf: „Sie haben meinen Herrn weggenommen“… mein Leben, meine Kraft, meine Hoffnung! - „Und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“… weiß nicht, wo alles das geblieben ist, was mich trug, was mich erfüllte und mir Leben gab.

Maria wendet sich um. Eben war sie noch gebückt, gekrümmt und starr. Eben hatte sie noch Augen, die nur nach unten sahen und sich nicht bewegten. Jetzt hat sie Augen, mit denen sie Jesus sehen könnte…- Aber sie erkennt ihn nicht! Noch nicht. Noch sind ihre Augen gehalten. Ja, Trauer beeinträchtigt die Wahrnehmung, Tränen lassen Konturen verschwimmen.

Dann die Frage Jesu: „Frau, was weinst du?" Zum zweiten Mal erklingt diese Aufforderung, den Schmerz auszudrücken. Und dann die direkte Frage: „Wen suchst du?" Suchst du den Toten? Suchst du deinen gütigen Gott? Dein verlorenes Selbst?

Und dann, liebe Gemeinde, wird's komisch, denn Maria in ihrer Trauer meint tatsächlich, Jesus sei der Gärtner, oder sagen wir es präziser: der Totengräber! Er sei der Zuständige für Grabkultur und Pietät! Es darf gelacht werden bei der Vorstellung vom lebendigen Christus als Bestatter!

Aber noch erkennen Marias Augen nur das, was man in dieser Welt voller Friedhöfe eben erwartet: Totenverehrung und Grabpflege. „Sag mir, wo du ihn hingelegt hast, dann will ich ihn holen." Sie will aktiv werden, will etwas tun, will mit dem, was sie schon immer tat, irgendwie ins Leben zurückfinden. Will sich selbst das Leben, jedenfalls ein eingeschränktes Leben, aber immerhin Leben zurückholen. Halt das bisschen Leben, das ihr noch bleibt.

Bis Jesus sie bei ihrem Namen ruft. „Maria!“ - Leise, liebevoll, zärtlich. So höre ich diese Anrede. Die leisen und liebevoll tröstenden Lebensworte gehen ja am tiefsten. Es ist ja auch eine leise Ostergeschichte, keine mit Pauken und Trompeten, die uns aber in der Tiefe unserer Seele ansprechen will: Maria hört sich bei ihrem Namen gerufen!

So, wie wir das aus Kindertagen kennen, wenn wir uns verirrt hatten…und endlich einer unseren Namen rief. So, wie wir das aus Krisenzeiten kennen, wenn wir nicht weiterwussten und wenn uns unsere Einsamkeit wie ein dumpfes Echo immer wieder entgegenschallte. Dann zärtlich beim Namen angesprochen zu werden…das ist wie nach Hause finden. „Maria!“ Mehr sagt Jesus nicht. Er spricht sie nur mit ihrem Namen an. Aber das ist wie eine sanfte Hand auf der Schulter. Wie ein tröstendes Streichen über die Wangen. Wie ein „Fürchte dich nicht!"

Und jetzt wendet sich Maria um, dreht sich um. Oder sagen wir besser: sie wird umgedreht. Sanft und zärtlich. Sie spricht Jesus jetzt auch direkt an: „Rabbuni". Das meint: Meister! Sie sagt Worte, wie sie sie vorher gesprochen hat, vor ihrer Trauer. Vertraute, liebevolle Worte. Alles, was sie verloren hat und was zerbrochen ist, ist in diesem Augenblick wieder da. „Mein Herr und mein Meister, meine Hoffnung, mein Glaube, mein Lebensmut." Alles legt sie in dieses Wort hinein: „Rabbuni". Und findet das Leben wieder.

Oder es wird ihr wieder gegeben. Jedenfalls wird Jesu liebevolles „Maria!“ für sie ein Ruf zu einem neuen Sehen, ja, zu einem neuen Leben. Aber damit ist diese leise Ostergeschichte noch nicht zu Ende.

Nein, es ereignet sich kein Durchbruch. Es geschieht kein gewaltiger Einbruch des Himmels und göttlicher Macht in ihre und ja auch nicht in unsere Wirklichkeit. Die ist und bleibt angefüllt und bedroht vom Suchen und Fragen, von lebensfeindlichen Mächten und bis heute von allen Spielarten des Todes. Angst wird von Gott nicht österlich weggezaubert oder weggepustet. Erfahrungen mit der Auferstehung bescheren uns noch keine heile Welt. Angst bleibt bedrohlich, Trauern bleibt bedrohlich, Sterben bleibt bedrohlich.

Möglicherweise möchte Maria Jesus festhalten, will vielleicht auch nur diesen Augenblick festhalten. Aber da markiert Jesus eine Grenze: Noli me tangere! Zu Deutsch: „Rühre mich nicht an!" Das schafft Distanz da, wo Maria Nähe und Vertrautheit sucht. Nein, Jesus kehrt nicht in das diesseitige Leben zurück. Er geht weg. Er entzieht sich ihr. Und entzieht sich uns ja auch immer wieder. Jeder macht diese Erfahrung im eigenen Glaubensleben.

Aber dennoch weiß sich Maria namentlich erkannt von ihm. So umfassend liebevoll erkannt, dass sie ins Leben zurückkehren kann. Er geht weg - und sie kann nun auch gehen. Sie kann den Ort des Todes und der Trauer verlassen. Sie muss nicht mehr „draußen“ stehen. Sie muss nicht mehr rückwärts sehen und nicht mehr rückwärtsgehen. Sie hat gefunden. Oder sagen wir: sie ist gefunden worden.

Diese Erfahrung will sie weitergeben. Sie steht auf und verkündigt den Jüngern, was sie gesehen und gehört hat. Aus der gebeugten und verkrümmten Maria wird eine Frau, die aufrecht steht und aufrecht zurück ins Leben geht. Ja, eine Wiedergeburt, ein neuer Anfang, eine Auferstehung aus Starre, Verzweiflung und Tod.

Liebe Gemeinde, von der Auferstehung erzählt uns diese leise Ostergeschichte nicht direkt, sondern nur indirekt. Sie erzählt uns aber wohl von einer bezwingenden Ostererfahrung. Keine Machtdemonstration, nicht das Wunder der Auferstehung wird uns berichtet. Aber von einer Auferstehung mitten am Tage wird uns erzählt, mitten in der alltäglichen Welt.

Und wir?

Wir erinnern uns heute daran, dass der auferstandene Christus den Tod (auch) für uns besiegt hat. Und dass er einen jeden und jede von uns schon in der Taufe beim Namen gerufen hat - um so auch uns in unserer Berufung zum Reich Gottes gewiss zu machen. Denn der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!