17.11.2024 - "Wir haben eine Vision" - Predigt zu Lk 18,1-8 am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (Pfarrer Stefan Fischer)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
Jesus erzählt von einer armen, unterdrückten Witwe und einem mächtigen, eisernen Richter: Unten und oben.
Jesus erzählt von diesen zweien, die aus ihren Rollen fallen:
Ich lese uns den Predigttext aus dem Lukasevangelium im 18. Kapitel, die Verse 1-8:
1Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten,
2 und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.
3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!
4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue,
5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.
6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt!
7 Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen?
8 Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?
Liebe Gemeinde,
Was das nicht der gewohnte Lauf der Dinge?
Arme Witwe bleibt arme Witwe.
Einmal mächtiger Richter, immer mächtiger Richter.
Die Kleinen haben nichts zu sagen.
Der Ober sticht den Unter.
Die Großen lachen sich ins Fäustchen.
Und sehen nicht, wie die Kleinen ihr Fäustchen in der Tasche ballen.
Und wie lange noch?
Da wartet man auf andere Zeiten und fragt sich: „Wann? Wann kommt hier endlich mal der Hammer?!“
Und noch schlimmer, wenn der sprichwörtliche kleine Mann eine Frau ist, die verwitwet ist, bevor sie einen Sohn hat, der für sie einsteht.
Diese Frau hat keine Familie, keine Versorgung und niemanden, der ihre Sache vertritt.
Klar kann sie vor Gericht gehen.
Aber wenn auch die Rechtsprechung durch Männer geregelt wird, fallen die Chancen einer kinderlosen Witwe bei Gericht.
Ihr da oben, wir hier unten.
Es gibt einige Länder, in denen das noch heute für Frauen so ist.
Keine Chance.
Die Witwe hatte eigentlich keine Chance.
Aber sie hat sie genutzt!
Das sagt uns der Bibeltext.
Vertauschte Rollen, verkehrte Welt.
Offenbar zeigt die Bibel heute allen eine lange Nase.
Ätsch – es kommt doch anders als man denkt!
Arme Witwe, mächtiger Richter – sie fallen aus ihren Rollen.
Die Witwe sagt nicht: Das klappt doch nie!
Durch Beharrlichkeit ist sie erfolgreich: Sie entpuppt sich als frech.
Der unbezwingbare Richter sagt nicht: Ich verliere meine Autorität.
Und so geschieht’s: Was ganz nach Tragödie aussah, bekommt ein Happy End.
Hier sind zwei, die die Spur wechseln.
Sie lösen sich aus ihren Verhärtungen, aus ihren Fallen, auch aus ihrem Frust.
Und ich höre sie förmlich lachen, besonders den Richter. Kein verächtliches Lachen, sondern zustimmend, der Witwe Beifall zollend.
Nach dem Motto: „Frau, du hast gewonnen.
Ich bleibe zwar Richter, vielleicht bleibe ich sogar eisenhart, aber heute hast du mich herumgekriegt.
Du bist die kleinste von allen, aber wenn du so weitermachst, steigst du mir noch aufs Dach.
Also sollst du Recht bekommen.
Ich setze mich für dich ein.“
Vertauschte Rollen, verkehrte Welt.
Er ist das andere Gesicht des Christentums und bringt auch die Vision wieder ins Spiel, die wir als Christen haben sollten.
Die Vision, dass unsere Bestimmung als Christen anders ist.
Anders als: So war es schon immer, füg dich hinein, sei realistisch. Realistisch wird hier aber in dem Sinn missverstanden: Füg dich in den Lauf der Dinge: Es ist halt so.
Aber was für eine Falle ist das!
Wäre die Witwe realistisch geblieben, hätte sie ihr Recht nicht erreicht.
Das andere Gesicht des Christentums leuchtet der Vision entgegen, dass nichts so bleibt und wir nicht abhängig sind von einem gesichtslosen, kalten Schicksal.
Da ist die reale Vision vom Reich Gottes.
Im Reich Gottes schaut die Realität oft anders aus, als in der Welt.
Gott selbst fällt aus seiner Rolle, die wir ihm oft zuschreiben.
Auch Gott – den wir uns oft als eisenharten und strengen Richter vorstellen – auch Gott wechselt die Spur, kommt uns entgegen.
Jesus sagt: Hab keine Angst.
Gott lässt dich nicht zappeln.
Und du brauchst dich nicht ausgeliefert zu fühlen.
Gott lässt sein Angesicht leuchten über dir.
Was kann das anderes bedeuteten, als Gott schaut dich freundlich an?
Er lacht dich nicht aus, er lacht dich an!
Der allmächtige Gott, bindet sich freiwillig an die Liebe, wird klein und schwach als Mensch geboren.
Gott stellt am Kreuz alles auf den Kopf.
Der Apostel Paulus beschreibt das im 1. Korintherbrief, Kapitel 1 so: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.“
Gott macht sich selbst klein, um die Verlorenen zu finden, die Armen zu beschenken, die von der Welt verdammten zu erlösen.
Vor Gott brauchen wir keine Angst zu haben, Respekt, Ehrfurcht schon.
Denn wir können schon erwarten, dass er uns den Kopf zurechtrückt, dass er uns die Nase in den Wind dreht und sagt: Da geht es lang.
Dort ist deine Bestimmung als Christ.
Dort ist mein Reich, die Vision einer gerechten Welt.
Gott lässt keinen zappeln - wer hat das eben gesagt? Warten wir nicht schon zu lange auf Frieden?
Und ist mit dem Anbruch der Globalisierung, ist da Gottes Reich der Gerechtigkeit nicht in weite Ferne gerückt?
Jetzt fällt uns das alles auf die Füße.
Nationalistisches Denken macht sich breit.
Die Menschen wählen Clowns und bekommen Zirkus.
Manchmal könnte man das wohl denken: Gott lässt mich zappeln und viele andere Menschen in unserem Land und in der Welt auch.
Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen, hat Helmut Schmidt einmal gesagt.
Und viele stimmen zu.
Zu viele – die Visionen von einer besseren gerechteren Welt sterben aus.
Unsere Vision als Christinnen und Christen ist das Reich Gottes.
Wenn wir das vergessen, berauben wir uns einer starken Hoffnung auf Besserung; einer Hoffnung, die bereits jetzt mein Leben bestimmt – mein Denken und Handeln.
Wenn wir vor den Mächten dieser Welt kapitulieren, dann stirbt diese Hoffnung – in mir und für andere.
Unsere Welt scheint nach Regeln zu funktionieren, die unserem christlichen Ethos widersprechen.
Notorische Lügner und verurteilte Verbrecher werden zu Präsidenten gewählt.
Das Recht auf Mitbestimmung, Minderheitenschutz, Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit – diese Werte werden ausgehöhlt und auf dem Altar des Pragmatismus geopfert.
Schnelle Lösungen werden versprochen – das klingt zu einfach.
Ja – ich gebe zu: Unsere christliche Vision von einer besseren Welt scheint aufgepfropft auf eine Welt, die doch nach ganz anderen Mechanismen funktioniert.
Und unsere Welt funktioniert ja scheinbar auch.
Nur nicht gerecht. Nur nicht friedlich.
Ich gebe zu, dass es schwieriger wird, unsere christliche Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
Hoffen wir wirklich noch an Gott und seine Macht, die in den Lauf der Zeiten eingreift?
Dass er die gerechte Sache für mich durchzieht?
Und wenn ja, werde ich dann nicht enttäuscht, weil sich scheinbar nichts verändert und Gott uns mit unserem Schicksal alleinlässt?
Wenn ich an diesen ungerechten Richter aus Jesu Gleichnis denke, und wenn Gott so eisenhart wäre, dann würde ich sagen: Warum sollte er etwas unternehmen?
Jesus sagt. Gott ist nicht so. Er ist gerecht. Er ist der liebende Gott.
Aber er wartet auf Euch; erlässt sich bitten.
Vielleicht wartet Gott auch, nämlich darauf, dass wir unseren Teil dazu tun.
Und damit komme ich zur Witwe.
Jesus gibt uns die Witwe zum Vorbild: Handelt, wie die Witwe es tat. Liegt Gott mit Eurem gerechten Anliegen in den Ohren.
Lasst nicht ab, für eine bessere Welt zu beten!
Zeigt: Uns liegt etwas an einer anderen Welt.
Gott wird euch hören und euch stärken:
Tretet mutiger ein für Frieden und gerechtes Leben.
Lasst die Welt sehen, dass wir treuer beten und versuchen fröhlicher zu glauben und brennender zu lieben.
Zeigen wir der Welt, dass wir als Christen und Christinnen wieder an unserer Hoffnung festhalten.
Dass wir überhaupt etwas erwarten.
Und diese Erwartung lebendig halten.
So wie es die arme Witwe getan hat, so wie sie ihre Vorstellung von Gerechtigkeit nicht aufgab.
Das hat sie durchhalten und überleben lassen.
Ja, die lebendige Vision von Gottes Reich erhält am Leben.
Lassen wir uns nicht beirren: Frieden ist möglich.
Ganz egal, was die Welt denkt.
Bei allem Recht auf Selbstverteidigung muss unser großes Ziel bleiben: Frieden schaffen durch weniger Waffen.
Lasst uns nicht aufhören, unsere Vision von einer liebevolleren Welt zu leben.
Zumindest es immer wieder zu versuchen.
Liebe Gemeinde, eine echt schräge Geschichte war das heute!
Na und?
Gottes Reich der Gerechtigkeit erscheint ja selbst schräg.
Schräg, weil es nicht zu den Verhältnissen passt, die ich erlebe.
Schräg, weil es mein Leben durchkreuzen wird.
Gottes Gerechtigkeit, sein Reich ist gewiss anders als meine Vorstellung davon.
Dieses Reich geht vielleicht an mir vorbei, wenn ich selbst nie etwas Schräges tun möchte, nie aus der Rolle falle.
„Ich doch nicht! Ich mach mich doch nicht zum Deppen!“
Hätte die Witwe auch sagen können.
Mit Grund!
Doch dann wäre sie wirklich die Dumme gewesen.
Aber sie liegt dem Richter in den Ohren.
Lasst uns das auch tun – Beten für eine gerechtere Welt, glauben, lieben und hoffen.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.