31.12.2024 - "Sehnsucht nach Gottes Gerechtigkeit" - Predigt zu Jesaja 51,4-6 am Altjahresabend (Pfarrer Stefan Fischer)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
wenn nun heute zum Jahreswechsel Gerechtigkeit ganz nah wäre …
Wenn sie morgen anbrechen und uns den Weg leuchten würde – wie die Feuersäule in der Wüste, wie ein Leuchtturm auf dem Meer.
Wenn ihr Licht ganz bald allen aufgehen würde, überall.
In was für einer wunderbaren Welt könnten wir dann leben: Wo es fair und gerecht zugeht und alle haben, was sie brauchen.
Und diese Gerechtigkeit währte für immer.
Das wäre ein Weg, den ich gehen und dem ich vertrauen möchte, wenn das neue Jahr beginnt.
An diesem Abend des „alten“ Jahres lasse ich die vergangenen zwölf Monate Revue passieren.
Viele schauen in diesen Tagen gern die Jahresrückblicke im Fernsehen – das ganze Weltgeschehen in einer Stunde zusammengefasst.
Sie sind voller Intensität und einem heftigen Auf und Ab von Emotionen: Hoffnung, Glück und Enttäuschung, offene Fragen, Antwortversuche und neue Fragen und dazwischen große Ereignisse.
Manches lässt sich im Rückblick deuten und einordnen.
Anderes fällt im Nachhinein noch schwerer zu verstehen oder zu akzeptieren: Wie konnte es dazu kommen?
Hier und da gibt es einen Schauer im Rücken, weil wir vor einigen Monaten manches noch nicht wussten, was wir heute wissen.
Wie gern hätten sich viele mehr Orientierung gewünscht in diesem Jahr.
Für die Evangelische Kirche war dies das Jahr der ForuM-Studie: Unsere Kirche und Diakonie haben Schuld auf sich geladen, haben über Jahrzehnte Missbrauch und sexualisierte Gewalt zugelassen und mit manchen unserer Eigenschaften und Strukturen sogar befördert.
Das haben wir seit Januar diesen Jahres schwarz auf weiß.
Uns damit zu beschäftigen, kann wehtun, weil es Enttäuschung bedeutet: Wir sind nicht so gut, nicht so sauber und schuldlos, wie viele meinten.
Doch noch viel schmerzhafter und enttäuschender wäre es für Betroffene, wenn wir uns dem Thema nicht stellten.
Immer wenn wir wieder einen Mantel des Schweigens über das Thema legen oder eine schnelle Geste der Vergebung in Richtung der Täter senden, setzen wir begangene Ungerechtigkeiten fort.
Es ist Zeit, auf Betroffene zu hören, damit Licht ins Dunkel kommt.
So sehr dieses Licht auch wehtun mag.
Es ist wichtig, jeden Tag weiterzuarbeiten an Aufklärung, um unsere Arbeit daran auszurichten und die Prävention auf festen Boden zu stellen.
Ich glaube, dass Gottes Licht uns auch in den Wüsten solcher Herausforderungen und Anfragen begleitet.
Dieses Jahr war politisch geprägt von großen Wahlen.
Die Wahlkämpfe und die Ergebnisse haben ihre Spuren hinterlassen.
Enthüllungen und zeitweilige hoffnungsvolle Aufbruchstimmung gab es genauso wie Erschütterung und Sprachlosigkeit und eine Sehnsucht danach, dass demokratische Kräfte sich zusammenraufen.
Häufig wurden in den Wahlkämpfen Gefühle von erlittener Ungerechtigkeit aufgerufen.
Die eine Partei, der eine Kandidat – sie greifen die Angst auf, zu kurz zu kommen, werben mit einfachen Lösungsangeboten und schüren dabei die Ängste.
Anstatt realistische Antworten auf Probleme vorzuschlagen und zur Diskussion zu stellen, profitieren sie von angstbesetzten Fragen.
Wer ihre Programme liest, erkennt, dass sie bestehende Ungerechtigkeiten nur verstärken, wenn sie an die Macht geraten.
Dennoch vertrauen Menschen ihnen und wählen sie, zum Beispiel weil sie zumindest ihre Ängste benennen.
Weil viele Ungerechtigkeiten tatsächlich groß und die Probleme komplex sind.
Und weil die Sehnsucht nach einfachen Antworten groß ist.
Sehnsucht danach, dass die gestörte Ordnung wieder hergestellt wird.
Dass Rettung und Hilfe und Gerechtigkeit sich einstellen.
Solche Sehnsucht kennt das Jesajabuch gut.
Zuerst die bedrohliche Lage direkt vor dem Exil, dann die Verschleppung.
Im Exil tauchen Bilder von Zerstörung vor dem inneren Auge auf: Rauchschwaden, zerrissene Kleider, Trümmer und Leichen. Menschen, die ihre Lieben vermissen und ruhelos nach ihnen suchen, sie zurückhaben wollen.
Bilder, wie sie in den Jahresrückblicken auch in diesem Jahr leider wieder oft zu sehen waren.
Im Angesicht solcher Eindrücke kann vieles sich scheinbar auflösen, das einmal Halt gegeben hat. Gemeinschaft und Zusammenhalt wirken weit weg. Eine gemeinsame Identität scheint unhaltbar, unmöglich.
Woran soll sie sich festmachen.
In diese Sehnsucht und in die verdichtete Erinnerung hinein spricht aus Jesajas Zeilen Gottes Wort und entwirft Hoffnungslichter.
Es ist, als würden die Worte einen Leuchtturm aufstellen, der Orientierung schenkt in all den unsicheren Nebelschwaden und unheilvollen Eindrücken:
Wir hören ein Stück aus dem Buch des Propheten Jesaja im 51. Kapitel:
4Merke auf mich, mein Volk, hört mich, meine Leute!
Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen.
5Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten.
Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm.
6Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde!
Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben.
Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.
Stell dir vor, es gibt so einen Leuchtturm – Gerechtigkeit, die ausstrahlt und auf die wir zusteuern können in unserer Sehnsucht.
Eine Richtung, in die wir gehen können – so wie das Volk Israel in der Wüste dem Licht der Feuersäule folgte.
Dieses Licht beleuchtet – so Jesaja – auch all das, was das Leben an Belastungen und Unheil mit sich bringt.
Und es zeigt den Weg an, auf dem Befreiung zu erwarten ist.
Auf dieses Licht hin ausgerichtet sortieren sich die Dinge.
Nicht durch einfache Antworten, sondern durch das gemeinsame Unterwegssein.
Und durch das Bewusstsein, dass wir längst wissen, was gerecht ist, weil Gott uns die Weisung ins Herz gelegt hat.
Wenn ich so auf das Jahr zurückschaue, dann taucht vor meinem inneren Auge neben den ganz großen Themen auch vieles auf, was ich persönlich erlebt habe:
Momente, die voller Freude waren, und andere, die mich noch immer traurig machen. Spannungen, Erleichterung.
So manches hat sich verändert, geklärt, entwickelt in diesem Jahr.
Menschen sind neu dazugekommen als Teil meines Lebens, von anderen musste ich mich verabschieden.
Das Leben kommt mir bedeutungsvoll und zugleich zerbrechlich vor an so einem Jahreswechsel.
Ich sehne mich – auch in meinem ganz persönlichen Jahresrückblick – nach etwas, das bleibt.
An dem ich mich orientieren kann auf meinen Wegen durchs Leben.
Wenn ich Jesajas Worte höre oder lese, dann ist das, was mir daran Kraft gibt, vor allem die Gottesbeziehung: Gott fordert das Gottesvolk auf, hinzusehen und zuzuhören.
Ich höre da heraus, dass auch Gott ganz genau hinsieht und zuhört.
Das klingt nach starker Nähe, nach einer stabilen Beziehung.
Da, wo ich das alte Jahr am liebsten noch festhalten will, oder da, wo ich aus meinen Erlebnissen noch nicht schlau werde, mit offenen Fragen hadere, wo ich meine Gefühle noch nicht einsortiert bekomme, wo ich einfach nur viel Bedeutung und Intensität und ein großes Auf und Ab von Emotionen spüre – überall da ist Gott ganz nah.
Selbst da, wo alles leer scheint wie in der Wüste, geht Gott mit und beleuchtet mir einen Weg in die Zukunft.
Für die großen und kleinen Fragen des Lebens hat Gott seinen Menschen die göttliche Gerechtigkeit und Weisung ins Herz gelegt.
Damit wir uns darauf verlassen können.
Heute Nacht beginnt das neue Jahr – und vor uns liegen wieder und weiterhin viele schöne Ereignisse, spannende Wege, große Aufgaben und herausfordernde Themen.
Manche Wanderung wird nicht ohne Diskussionen und Streit, nicht ohne Verzicht und gegenseitige Enttäuschung vorangehen, auch nicht im neuen Jahr.
Manchmal werden wir etwas wie die Nähe des gelobten Landes spüren – und manchmal wird das Leben sich wie Wüste anfühlen.
Doch stell dir vor, die Gerechtigkeit steht kurz bevor. Das Recht ist ganz nah – so wie es Gott in Jesajas Schrift verspricht – und Gott weist uns den Weg.
Wenn wir zuhören und hinsehen und die Gerechtigkeit wachhalten, die in unsere Herzen gelegt ist – dann wächst die Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, besonders mit denen, die unter Ungerechtigkeit leiden.
Dann richten wir uns aus auf dieses Licht der Gerechtigkeit, das ganz bald schon anbricht wie ein neuer Morgen.
Gottes Licht und Aufmerksamkeit lenken uns, durch Leben und Leid und Herausforderungen hindurch zu neuen Anfängen.
Wenn wir darauf vertrauen – das gibt doch Mut zum Handeln.
Niemand mehr muss sich im Lichte dieses Leuchtturms fürchten, verhöhnt oder verurteilt zu werden, wenn sie sich für Gerechtigkeit einsetzen.
Niemand braucht mehr Angst zu haben, eigene Schattenseiten und Unzulänglichkeiten zu zeigen.
Das göttliche Licht beleuchtet sie und weist die Richtung zu neuen Wegen.
So könnten wir anfangen freiere, gleichwürdige Menschen zu sein und versuchen unter den gegebenen Bedingungen das zu tun, was uns möglich ist – und dann kommen wir der Gerechtigkeit und dem Recht wirklich jeden Tag ein kleines Stück näher.
Am Ausklang des „alten“ Jahres möchte ich mich von Jesajas Worten einladen lassen, so zuversichtlich ins Neue zu blicken.
Hinsehen und hinhören auch dort, wo es wehtut.
Und mich in all dem getragen wissen von der Gewissheit, das in all dem Wechselhaften unserer Zeit und zwischen den Jahren doch etwas bleibt: göttliche Gerechtigkeit und Hilfe, die uns den Weg leuchten wie das Licht eines Leuchtturms.
Wir sind nicht allein, sondern verbunden – mit all denen, die sich von diesem Vertrauen prägen und anstecken und ermutigen lassen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe.