18.04.2025 - "Es ist vollbracht" - Predigt zu Joh 19,16-30 im Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer am Karfreitag (Pfarrerin Stawenow)

Liebe Gemeinde,

ich möchte heute diesen Jesus, der am Kreuz stirbt, mit Dietrich Bonhoeffer ins Gespräch bringen. Viele Medien berichteten in den letzten Wochen über ihn. Er wurde vor 80 Jahren, am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet.

Dietrich Bonhoeffer schreibt im Gefängnis ein berühmtes Gedicht. Es heißt „Wer bin ich?“
(veröffentlicht in: Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 111980, 179.)

Ja, wer bin ich eigentlich? Zumeist leben wir unsere Tage so dahin, sind einfach „ich“ so wie wir sind. Es gibt wichtige Schaltstellen im Leben, da steht diese Frage ganz groß da: In der Pubertät, wenn man einen Beruf ergreifen muss oder sich neu orientiert, auch in Beziehungen. In der Mitte des Lebens – oder: Am Ende des Lebens.

Am Ende des Lebens – da stehen wir heute mit Jesus. Er stirbt am Kreuz. So wie der Evangelist Johannes uns die Geschichte erzählt, bleibt Jesus in seinem Leiden und Sterben der Handelnde. Auch Jesus wird sich gefragt habe: Wer bin ich?
Der Evangelist Johannes erzählt uns von Jesus, dem Gottessohn. Der Gottessohn behält in der schlimmsten Pein ein gerades Rückgrat.
Er trägt selbst sein Kreuz.
Er stirbt als König..
Er kümmert sich trotz Todesqualen um seine Mutter und stellt ihr seinen Freund zur Seite.
Seinen Durst gesteht er nur ein, damit die Schrift auch wirklich erfüllt wird.

Wir, die wir das lesen, erfahren von seinen Leiden. Gleichzeitig sehen wir den Gottes Sohn, der das mit „erhobenen Haupt“, so könnte man sagen, erduldet. Wer anders als er, könnte das auf diese Weise durchstehen?

Wer bin ich? Was würde Jesus antworten – dort am Kreuz?
„Ich bin Gottes Sohn, König der Welt. Mein Leiden ist nur eine Durchgangsstation. Ich habe alles im Griff.“ Würde Jesus so sprechen?

Ich weiß es nicht. Wenn man den Evangelisten Johannes hört, dann kann man das meinen.

Es gibt mir Kraft und Hoffnung, wenn Menschen sich von ihrem Leid nicht erdrücken lassen, obwohl es erdrückend ist.
Es tut gut, Menschen zu sehen, die ein starkes Rückgrat haben und sich von Beleidigungen, Hetze und Demütigung nicht klein kriegen lassen. Auch wenn das Konsequenzen hat.

Viele Menschen lassen sich von Dietrich Bonhoeffers Lebenszeugnis ermutigen.
Der Theologe hatte sich in innerem Ringen entschlossen, innerhalb der Widerstandsgruppe des 20. Juli mitzuwirken. „Dem Rad in die Speichen fallen“, so benannte er seine Motivation.
Als Ausbilder für junge Pfarrer hat er damit gerungen, was es konkret heißt, heute Christ zu sein. In seinem Buch „Nachfolge“ veröffentlichte er 1937 sein Ergebnis. Es fordert Kompromisslosigkeit. Das, was geistig geglaubt wird, muss auch sichtbar werden im Alltagsleben. Deshalb fordert Bonhoeffer, dass die Werte der Christusnachfolge auch gelebt werden.

Dietrich Bonhoeffer ist ein Mensch, der Rückgrat hat und für seine Überzeugung einsteht.  So erleben ihn die Mitgefangenen im Berliner Gefängnis 1944.

Dietrich Bonhoeffer dichtet:

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.“

Doch das ist nur die Außenperspektive, gesteht Bonhoeffer ein. Was es innen heißt, gefangen zu sein, nicht zu wissen, wie es weitergehen kann, beschreibt er im folgenden Abschnitt:

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Da leidet ein Mensch. Ich versuche mitzufühlen: Wie muss es sein- nie mehr Vogelstimmen hören zu dürfen? Die Geliebten nicht mehr wiederzusehen?
Wie kann ein Mensch das alles mit sich selbst ausmachen?

Da leidet ein Mensch. Da – am Kreuz.
Das Markusevangelium zeigt die Seite von Jesus, die nicht heroisch stirbt.
Ein anderer muss das Kreuz tragen, weil er es nicht schafft.
Die Menschen lästern. Er kann sich nicht wehren.
Es wird dunkel um ihn.
Verzweifelt ruft Jesus Worte aus dem alten Psalm: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Er schreit.
Er stirbt.

In den Evangelien sind uns zwei Seiten von Jesus überliefert. Sie stehen nebeneinander und hinterlassen Fragen bei den Leserinnen. Wer ist Jesus: So oder so? Der Sieger und Held oder der verzweifelte Mensch in Todesangst?

Bonhoeffer durchlebt die Verunsicherung am eigenen Leib:

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?


Er empfindet sich nicht als der standhafte Märtyrer, als den wir ihn heute achten. Er versteht sich selbst nicht:
„Vor den Menschen ein Heuchler“ – das, was er immer leben wollte, worüber er Bücher geschrieben hat, trägt ihn im Innersten nicht, so empfindet er. Auch wenn andere es denken.
„Vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling“: Müsste ich es nicht können, stark sein? All das locker schultern, wie ich es in meinen Büchern geschrieben habe?
Sein Inneres ist ein anderes.

Liebe Gemeinde!
Dass Innen und Außen eines Menschen nicht zusammenpassen, ist menschlich.
Ich selbst kenne das. Ich kann wunderbar lächeln. Aber es gab und gibt Zeiten, da war mir gar nicht zum Lächeln zumute. Ich habe trotzdem gelächelt. Wer würde ahnen, wie es in mir aussieht? Eine Freundin besserte ein bekanntes Sprichwort aus und schenkte es mir auf einer Karte: „Ein Freund ist, wer für dich weint, wenn du lächelst.“ (Natürlich heißt es ursprünglich: „Ein Freund ist, wer für dich lächelt, wenn du weinst“)
Sie wollte mir sagen: Ich sehe es, welche inneren Konflikte du mit dir rumträgst. Du musst nicht stark sein. Du darfst auch Schwäche zeigen. Ich halte sie mit dir aus.

Wer bin ich?
Am Karfreitag begegnen sich Stärke und Schwäche. Leiden und Liebe. Es ist ein Paradox. Ein heilsames. Wir erleben Jesus, den Gottessohn als einen Menschen, der leidet bis zum Tod. Der die allerschwächste Seite zeigt. Und trotzdem Herr seiner selbst bleibt.

Geht das zusammen?
Bei Jesus schon.
Bonhoeffer treibt es in die Verzweiflung.

In den letzten zwei Zeilen seines Gedichtes schreibt er:
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Die vielen Fragen finden keine Antwort. Bonhoeffer kennt nur eine Antwort: Er legt alles, was ihn umtreibt, in Gottes Hände.
Er hat Jesus vor Augen. Der sagt am Kreuz – kurz bevor er stirbt – im
Lukasevangelium: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.

Wer bin ich?
Am Karfreitag dürfen wir hinter die Kulissen schauen.
Bei Jesus – er kennt das tiefste menschliche Dunkel.
Bei uns selbst. Was ist in mir los? Was mag ich niemanden anvertrauen?
Angst vor der Zukunft. Ein quälendes Erlebnis aus der Vergangenheit.
Ein Schuld, die mich umtreibt. Eine Krankheit, die mich bedroht.
Dazwischen immer wieder Gedanken und Gefühle, die darum kreisen. Hart ist es, wenn ich mir mein Leben anders vorgestellt hätte. Und an meinen Plänen oder Idealen gescheitert bin.

So fühlt sich vermutlich Dietrich Bonhoeffer, verlassen im Gefängnis. Am Tag, als er vom Scheitern des Attentats erfährt, schreibt er in einem Brief, dass er immer gedacht hätte, er könnte lernen zu glauben, indem er ein heiliges Leben führt. Indem er eben alles tut, was Gott von ihm fordert. So wie er es in seinem Buch „Nachfolge“ beschrieben hatte. Radikal. Jetzt erkennt er, dass seine Gedanken und sein Buch eine Gefahr birgt. Nämlich am Leben (und auch an Gott) vorbeizuleben, wenn er alles richtig machen will.
Christliches Leben heißt – so schreibt er nun, die Diesseitigkeit zu durchleben. Im Jetzt zu Leben: „Die Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten.“
Und in dem allen „wirft man sich Gott ganz in die Arme“.
(Bonhoeffer, Widerstand, 183.)

Und da steht er, der Gott, der die Arme ausbreitet und ruft: Wer kommt in meine Arme?
Es ist der Gott, der in Jesus ganz Mensch geworden ist und am Kreuz stirbt.
Am Kreuz breitet er seine Arme aus. Er bleibt Sieger. Er sagt – wie wir es im Johannesevangelium gehört haben – „Es ist vollbracht.“

„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn dahin gab.“ sagt der Wochenspruch (Joh 3,16).
Für uns – damit wir mit unseren Fragen, Ängsten und Freuden uns direkt in seine offenen Arme werfen können.

Es verbietet sich die Worte von Jesus oder von Bonhoeffer zu missbrauchen, um Schranken aufzubauen und vermeintlich christliche Werte zu verteidigen, so wie es nicht nur in den USA geschieht.

Es zählen die offenen Arme, die Jesus Christus am Kreuz ausbreitet. Für alle. Und damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Amen.