04.05.2025 - "Vom guten Hirten" - Predigt am Sonntag Miserikordias Domini zu Joh 10,11–16(27–30) (Pfarrerin Sr. Elise Stawenow)

Liebe Gemeinde,

Einleitung: Papst Franziskus – der gute Hirte

es war am Ostermontag in der Sakristei, eine knappe halbe Stunde vorm Gottesdienst. Da trat einer der ersten Gottesdienstbesucher in die offene Tür, mit dem Smartphone in der Hand und sagte ganz erschrocken. Der Papst ist gestorben!
Ich war ebenfalls überrascht und fragte: „Soll ich ihn in die Fürbitte aufnehmen“?

Nicht nur wir beide waren betroffen. Noch einige mehr. Und das als Evangelische. Verbietet sich das nicht?

Das Brustkreuz von Papst Franziskus zeigt den guten Hirten, barfuß, in armseliger Hirtenkleidung, ein Schaf auf den Schultern. Dahinter die Schafherde angedeutet.
Er sah sich ganz in der Tradition des guten Hirten, der konsequent für die Barmherzigkeit Gottes einsteht: Bei den Armen, den Verlorenen, den Menschen am Rand der Gesellschaft. Die gängigen päpstlichen Konventionen warf er über den Haufen. Papst Franziskus war anders. Kein hochgeistiger Theologe, kein berechnender Diplomat. Fernab dem verschwenderischen Machtgehabe des Vatikans (und doch mitten drin) demonstriert er Einfachheit des Evangeliums – im Leben und Glauben. Das imponiert auch den Evangelischen.

I der gute Hirte vs. die schlechten Hirten

Der Papst als Stellvertreter Christi – so die Tradition seit dem 12. Jahrhundert – sieht sich zugleich als guten Hirten, ganz wie Jesus, der sagt: „Ich bin der gute Hirte.“

Können wir dem folgen? Was unterscheidet Christus von den Hirten dieser Welt?

Ich lese noch einmal aus dem Predigttext, dieses Mal in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache (BigS):

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe.
Bezahlte Angestellte, die nicht Hirtinnen oder Hirten sind, und denen die Schafe nicht gehören, die sehen den Wolf kommen und verlassen die Schafe und fliehen – und der Wolf raubt die Schafe und treibt sie auseinander. Dies geschieht, weil sei bezahlte Angestellte sind und ihnen nichts an den Schafen liegt.

Der Vergleich liegt ökonomisch nah. Besitz verpflichtet. Der Eigentümer, der Familienunternehmer, der Besitzer einer Herde tut alles ihm Mögliche für das, wofür er Verantwortung trägt. Der Mieter jedoch, ein Manager oder Lohnarbeiter tut das, was sich lohnt – und wenn es keinen Gewinn ergibt oder zu riskant wird, lässt er seine Aufgabe fallen.
Solche Hirten und Führer kennt die Welt. Zum Ende des 2. Weltkrieges hin hat sich nicht nur einer aus der Verantwortung gestohlen. Die Hirten der Kirchen machen es manchmal nicht besser. Immobilienspekulationen in Rom,  Missbrauchsfälle auch bei den Evangelischen und an vielen Orten intrigantes Verhalten, das den eigenen Vorteil sucht.
Schon der Prophet Hesekiel wettert gegen schlechte Hirten in Israel, die sich in die eigene Tasche wirtschaften. Gott selbst will sorgen – für grüne Auen. Dass in seiner Herde das Verlorene gesucht, das Verirrte zurückgebracht wird. Das Schwache gestärkt und das Verwundete verbunden wird. (Vgl. Hes 34,15f). Denn Gott selbst wird den wahren Hirten senden.

Der gute Hirte – gibt alles. Sogar sein Leben.
Der gute Hirte ist anders.
Er regiert nicht nur und sorgt für eine gute, schützende Ordnung.
Er ist in enger Beziehung mit seiner Herde.

II Auf welche Stimme höre ich?

Im Johannesevangelium sagt Jesus weiter:

Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, so wie mich Gott wie eine Mutter kennt und ich Gott kenne. … (Joh 10,14f).

Dieses Kennen ist tiefste Verbundenheit. So wie das Kind einmal mit der Nabelschnur mit der Mutter verbunden war, ein Teil von ihr – folgt man dem Bild der BigS. So wie der Vater nach antikem Verständnis für das Kind sorgt, indem er für die soziale und materielle Einbettung im Familiengefüge sorgt.
Entgegen manch anderer Erfahrung, ist das ein Bild des Vertrauens, das auf Gegenseitigkeit beruht.

Jesus sagt ein paar Verse später:

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden bis in Ewigkeit nicht verloren gehen und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“

Die Stimme hören und sogleich erkennen: Das kann kein anderer sein!

Im Bild klingt das gut. In der Praxis ist das schwer: Wie kann ich die Stimme des guten Hirten von anderen Stimmen unterscheiden?

Sicher sind die anderen die lauteren. Verheißungsvolleren. Die den Himmel auf Erden versprechen.
Der gute Hirte verspricht das nicht. Er verspricht (ewiges) Leben.

Am Sonntag, der die Barmherzigkeit Gottes als Überschrift trägt, erinnere ich an die Stimme des weiten Herzens:

Jesus beugt sich voller Erbarmen über den Gelähmten. Er scheut nicht vor der blutenden Frau zurück, ermöglicht Betrügern die Lebenswende. Er begegnet der stigmatisierten Ehebrecherin auf Augenhöhe.
Er setzt Barmherzigkeit auf sein Programm: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ So lehrt er in der Bergpredigt.

Die anderen Stimmen sind lauter. Sie bringen ihn am Ende ans Kreuz.

Laute Stimmen sind aktuell in dem Ort zu hören, wo ich mein Vikariat verbracht habe. In der Geflüchtetenunterkunft eskalierte letzte Woche ein Streit und endete blutig. 3 Verletzte, darunter die Hausmeisterin, die sich mit hohem Engagement und großer Fürsorge für die Menschen dort einsetzte. Sie hat für ihr Engagement vermutlich keine religiöse Motivation, doch ein sehr weites Herz für „ihre Jungs“.
Nun wettern laute Stimmen gegen die Ausländer. Die AfD veranstaltet eine Kundgebung. Unter den Bürgerinnen und Bürgern verbreitet sich Angst: Kann ich mein Kind noch auf die Straße lassen?

Was sie vermutlich nicht hören: Wie Geflüchtete sich verzweifelt um ihre Hausmeisterin sorgen und ihr beistehen. Wie sie sich schämen für ihren Kollegen, den es in seiner Wut überkommen hat.

Die Tat ist nicht zu entschuldigen. Trotz möglicher Schuldunfähigkeit aufgrund traumatischer Hintergründe bleibt es eine Gewalttat.

Doch was würde eine Stimme der Liebe und Barmherzigkeit dazu sagen?
Daran erkenne ich die Stimme des guten Hirten.

III Barmherzigkeit für gescheiterte Schafe als auch Hirten

Der geht seine Wege mit seiner Herde. Seine besten Schafe sind nicht selten die dümmsten.
Kurz vor seinem Tod erklärt Jesus mit Worten des Propheten Sacharja (Mk 14,27 BB): Ihr werdet euch alle von mir abwenden, wie es in der Heiligen Schrift steht: „Ich werde den Hirten töten und die Schafe werden auseinanderlaufen.“
Petrus empört sich: „Niemals,“ sagt er. „ich folge dir bis in den Tod.“
Er scheitert. Und fällt tief. Hat er die Barmherzigkeit des Guten Hirten verdient?

Das Johannesevangelium endet mit der Begegnung zwischen Petrus und Jesus (Joh 21,15ff).
Beschämend die Frage von Jesus: „Hast du mich lieb?“
Jesus nimmt die Beziehung wieder auf. Er fragt ihn drei Mal. Petrus traut sich den Superlativ nicht mehr zu.
Aber Jesus traut es ihm zu. Er gibt ihm den Auftrag: „Weide meine Schafe!“.

Der erste Papst – wie die katholische Tradition Petrus sieht – ist ein gescheiterter Papst.

Schluss: Papst Franziskus – ein gescheiterter Papst?

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, hätte Papst Franziskus gern ein zweites Mal interviewt: „Eine Frage lag mir besonders am Herzen“ schreibt er. „wenn ich mich denn getraut hätte: Fühlt er sich als gescheiterter Papst?“ Lorenzo erinnert nicht zuerst an die nicht vollzogenen Reformen. Er denkt an die Begegnung mit dem Papst, der am Ende des Interviews bittet: „Betet für mich!“. Ihm war seine Angewiesenheit auf die Barmherzigkeit Gottes sehr bewusst. „Ich vermute“, schreibt der Journalist, „aber das ist natürlich reine Spekulation, dass Franziskus die Frage nicht abgewehrt hätte. Vielleicht hätte er sie bejaht. Hoffentlich wissend, dass ihm trotzdem vieles gelungen ist. Und vieles bleiben wird.“ (Art. „Was bleibt“ von Giovanni di Lorenzo, aus: ZEIT Nr. 17/2025)

Ich bin evangelisch. Der Papst ist für mich ein interessanter Vertreter des weltweiten Christentums. Nicht der Stellvertreter Christi per se.
Doch im Lebenszeugnis von Jorge Mario Bergoglio höre ich eine Stimme des weiten Herzens.
Sie ruft in die Beziehung zum guten Hirten, der mich kennt – in- und auswendig.
Sie ruft nach Hüterinnen und Hüter der Barmherzigkeit. Menschen, die sich von Jesu Stimme leiten lassen. In der Kirche und in der Welt.
Ihnen allen gilt: „Gutes und Barmherzigkeit werden ihnen folgen ein Leben lang und sie werden bleiben im Hause des Herrn.“ (Ps. 23,6). Amen.