13.07.2025 - Ist das Glas halb voll oder halb leer? - Predigt zu Lk 6,36-42 (Pfrin. Sr. Elise Stawenow)

Predigt Lk 6,36-42

Liebe Gemeinde,

Teil 1: Sehtest

ist dieses Glas halb voll oder halb leer?
In dieses Glas passen 200ml hinein. 100ml sind drin. Die Hälfte ist gefüllt.
Man kann sehen, dass es bald leer ist oder eben ziemlich voll.
Fakt ist: „Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.“
Was ich da sehe, sagt etwas über mich aus, nicht über die Sache an sich.
Was sehen sie? Ist das Glas leer oder voll?

Der Predigttext beschäftigt sich mit unserer Bewertung dessen, was wir sehen, erfahren, erleben:
Richten, verurteilen und Schuld zuweisen sind Vorgänge der Bewertung, die andere betreffen.
Aber das, was vorher geschieht, die Erfahrung und das Erlebnis, findet in mir statt.

Nehmen wir einmal an, ich komme voller Durst in den Biergarten, bekomme den Humpen gereicht – und sehe, er ist nicht ganz gefüllt. Natürlich werde ich mich beschweren, denn er ist ja halb leer und ich möchte fürs Geld bekommen, was mir zusteht.
Anders der alte Mann im Altenpflegeheim. Neben ihm auf dem Nachtkästchen steht eine Schnabeltasse. Die Schwester kommt vorbei und sagt, vielleicht etwas vorwurfsvoll: "Die Tasse ist ja noch halb voll!“ Sie ist besorgt, denn Trinken ist existenziell. Sie muss dokumentieren, wieviel der Mann trinkt. Aber für ihn ist es mühevoll.

Jeder von denen fällt ein Urteil, indem er Bilanz zieht. Das geschieht im Gehirn.
So wie auch das Sehen im Gehirn geschieht. Das Auge liefert Rohdaten, das Gehirn verarbeitet. Es macht eine Analyse und kommt zum Ergebnis. „doch das Gehirn glättet, verbiegt und interpretiert die Daten aber von Anfang an, denn die Augen liefern kein klares Bild. Nur in der Mitte gibt es eine hohe Zäpfchendichte, daneben sogar einen blinden Fleck.“[1] Vom blinden Fleck spricht Jesus in der Feldrede:

„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst nicht den Balken in deinem Auge?“ Lk 6,41f

Jesus lädt uns zur Selbstwahrnehmung ein. Wer den Splitter im Auge des Nächsten sieht, darf sich fragen: Was sagt das über mich? Warum fällt mir dieser Splitter so sehr auf? …

Einer reagiert allergisch, wenn ihm jemand zu wenig ins Glas füllt, weil er schon als Kind immer das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen.
Die Altenpflegerin, die den Becher halb voll am Bettrand des alten Mannes stehen sieht, kriegt Stress – weil sie doch gleich noch zu jemanden anders ins Zimmer muss, nicht so viel Zeit hat, den Mann vom Trinken zu überzeugen, gerad stehen muss für das, was sie dokumentiert und eigentlich so geschafft ist – für paar Minuten hinsetzen und in Ruhe die Tasse Kaffee trinken.

Am Sonntag heute geht es ums Zusammenleben.
Sie hier in Zedtwitz sind Profis dafür, haben Preise bekommen – und sich beim aktuellen Wettbewerb wieder ins Zeug gelegt.
Zusammenzuhalten tut gut, gibt Sinn und macht Freude. Gleichzeitig gibt’s Gemeinschaft nicht ohne Unstimmigkeiten. Das kann ich aus Erfahrung sagen.

Als ich noch neu im Kloster war, fand ich im Speisesaalnebenraum einen Spruch an der Wand hängen. Der Speisesaalnebenraum ist die Zentralstelle für das gemeinsame Leben: Hier werden die Essensanmeldungen gezählt, Servietten aufbewahrt, Blumensträuße gerichtet und der Putzeimer verwahrt. Ein kleiner Raum, bei dem man auch schnell die Tür zu machen kann, um einen Konflikt zu klären. Dort hing an der Wand:
„Ich suchte Gott und fand ihn nicht. Ich suchte mich und fand mich nicht. Ich suchte meinen Nächsten, meinen Bruder und fand alle drei.“

Es soll sagen: Wenn ich meinen Nächsten – sei es meinen Partner oder die Partnerin, den Mitbewohner oder die Schwester zu sehen und zu verstehen lerne, dann lerne ich mich kennen – und Gott.

Es heißt, nicht vorschnell ein Urteil über den anderen zu fällen. Lieber innehalten und mich fragen: Dass mich das jetzt so aufregt, woran liegt das?
Welcher Splitter im Auge des anderen zeigt mir mein Balken?

Sie wissen ja: Nur ein kleiens Staubkörnchen im Auge zu haben, tut weh. Wie mag es sein, wenn da ein ganzer Balken drin steckt? Das ist nicht möglich, weil es nur eine Metapher ist. Aber ernst genommen müssen es Höllenqualen sein. Wie gut, wenn eine Erkenntnis mich davon befreit!

Teil 2: Sterntaler

Jesus sagt: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Lk 6,37f

Das kleine Waisenmädchen in dem Märchen der Gebrüder Grimm hat nur das, was es auf dem Leib trägt, ein Stückchen Brot als Proviant und ist allein unterwegs.
Da trifft es einen armen Mann, der nichts zu Essen hat. Sie sieht seine Armut und dass sie doch noch mehr hat, und verschenkt das Brot. Auf dem weiteren Weg verschenkt sie auch das Mützchen, das Leibchen und das Röckchen.
Am Ende steht es selbst nackt und bloß da.
Da öffnet sich der Himmel. Und vom Himmel fallen Sterne als Taler. Da sMädchen fängt es mit ihrem letzten Hemd auf. Es ist reich. Beschenkt.

Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.; denn eben mit dem Maß mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. (Lk 6,38) Sagt Jesus.

Ich bin sicher, es geht nicht darum, alles verschenken zu müssen. Es geht um die Haltung. Kann ich im Herzen sehen, wieviel ich habe? Dass ich keine Angst haben muss, dass andere mir alles wegnehmen? Vielmehr vertrauen, dass ich das, was ich gebe, zurückbekomme?

Teil 3: Reiche Fülle von Gott

Das Sterntaler-Mädchen erlebt, was in dem Spruch vom Speisesaal steht: Indem sie den Nächsten findet, ihn nicht übersieht, seine Not ernst nimmt, findet sie Gott. Er schenkt ihr, was sie zum Leben braucht.

Ein überfließendes Maß.

Von Gott her gilt jedem Hier das überfließende Maß an Liebe. Zuwendung. Gnade.

Wasser in das Glas gießen bis es überfließt. Schon bevor wir hier auf die Welt kamen, sagte er: „Ich hab dich je und je geliebt – für immer geliebt, darum hab ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Er gießt seine Liebe ein in einen jeden von uns, dass sie überfließt.
Gott ist barmherzig. Sein Herz hat Platz für mich und dich – so wie wir sind.
Er nimmt mich an, ganz gleich ob für mich das Glas halb leer oder halb voll ist.
Denn er möchte mir die Fülle geben.

Damit ich seine Liebe sehe, höre und spüre. Und mein Blick und mein Herz sich weitet: Weil Gott barmherzig ist. Amen.

 

 

 

[1] https://www.deutschlandfunk.de/sendereihe-philosophie-im-hirnscan-manuskript-die-welt-wie-100.html