24.08.2025 - "Im Stolpern Halt suchen" - Predigt zum Israelsonntag (Pfrin. Sr. Elise Stawenow)
Predigt am Israelsonntag, 24.08.25
Mk 12, 28-34
Stolpern
Liebe Gemeinde!
Ich stolpere heute in die Kirche.
Ich habe es vor mir hergeschoben, die Predigt zu schreiben. Denn ich habe keine Antworten. Ich habe viele Fragen.
Ich denke an die goldenen Stolpersteine, über die ich – bisher leider nicht hier in Hof – schon oft gestolpert bin. Sie geben mir immer wieder einen Stich ins Herz.
Ich denke an Geiseln, die immer noch in einem der palästinensichen Geheimgänge auf Befreiung warten, falls sei noch leben.
Ich denke an Trümmer und hungernde Kinder. Und schlimmes Leid, das droht.
Vor kurzem sagte jemand zu mir: „Ich bewundere Ihren festen Glauben.“
Gerade spüre ich es besonders deutlich: Mein Glaube besteht aus vielen stolpernden Schritten, die nach Halt suchen. Auf diese Suche möchte ich sie mitnehmen.
Kreuzverhör
Können Sie sich an eine mündliche Prüfung erinnern?
Meine letzten liegen nicht lang zurück. Experten befragen einen. Sie quetschen aus einem heraus, was nur geht und stellen Fragen, die man lieber nicht beantworten möchte.
Das Adrenalin steigt.
In dieser Szene begegnen wir Jesus. Er kommt ins Kreuzverhör und hat Gelegenheit, sich mit Experten zu messen. Alle sind sie anerkannte jüdische Lehrer – allerdings von verschiedenen spirituell-poltischen Hintergründen.
Die Pharisäer und Anhänger des Königs Herodes befragen ihn zu den Steuern.
Die Sadduzäer fragen ihn nach der Auferstehung. Sie selbst lehnen ein Leben nach dem Tod ab.
Und schließlich tritt ein Schriftgelehrten auf, der bisher nur zugehört hatte. Schriftgelehrter heißt im Griechischen „grammateus“.Da merkt man, was dahinter steht: Jemand wendet sich mit allen Sinnen dem Buchstaben (gramma), den Dokumenten, den Wissenschaften zu.
Mit seiner Frage trifft er ins Herz der Religion.
Es ist die Frage, von der ich mir Halt in meiner Stolperei erwarte.
Was ist das höchste Gebot von allen?
Das Judentum kennt 613 Gebote. Es gibt für jeden Tag ein Verbot (365) und 248 Gebote. Man kann vielleicht besser sagen: Es gibt 613 Wegweisungen.. Denn Tora bedeutet Weisung. Wie kann ich in Einklang mit Gott und Menschen gut leben? Dafür gibt es diese Gesetze.
Es braucht „Grammatiker“ – Schriftgelehrte – um sie auszulegen, ins Leben zu übersetzen und zu priorisieren.
Was also ist absolut unverzichtbar für ein Leben nach Gottes Sinn?
In meinen Schulklassen kommt bei dieser Frage ganz schnell: Die zehn Gebote. In der vierten Klasse lernt man die und kapiert, dass sie sehr sinnvoll sind fürs Zusammenleben der Menschen.
Aber geht’s noch kürzer?
Es geht noch kürzer:
„Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von all deiner Kraft. Das andere ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
So antwortet Jesus. Als guter „Grammatiker“ – Schriftgelehrter – zitiert er zwei Stellen aus der Tora. Das eine ist das Schema-Israel, das Glaubensbekenntnis der Jüdinnen und Juden aus dem 5. Buch Mose (6,14), das andere stammt aus dem 3. Buch Mose (Lev 19,8).
Im Kreuzverhör dreht Jesus den Spieß jetzt rum. Nicht mehr er wird geprüft, sondern der andere.
Jesus kommentiert die Antwort des Schriftgelehrten:
Du bist nicht fern vom Reich Gottes.
Will heißen: Wenn du nach dieser Überzeugung lebst, kommst du einer Welt, in der die Liebe Gottes regiert, ganz nah.
Da wird es für mich interessant in meinem Stolpern und Schlingern. Hier muss ich tiefer bohren.
Drei Tiefenbohrungen möchte ich teilen:
- Höre!
Schema Israel! Höre!
Das, was zählt, ist nicht das Wissen, sondern das Hören!
Mach deine Ohren weit, sei offen für das, was dir begegnet:
Das Judentum ist eine Religion des Lernens, die auf dem Hören beruht. Texte werden auswendig gelernt. Und sie werden mit dem Alltag in Beziehung gesetzt. Was herauskommt, sind Fragen. Deshalb diskutieren die Rabbiner bis heute so wie Jesus mit den Schriftgelehrten. Es gibt nicht die eine richtige Antwort. Aber es gibt warm und kalt, wie Jesus betont: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Wer Hörender ist, ist der Welt, in der die Liebe Gottes regiert, sehr nah.
Wir haben gelernt, was richtig und falsch ist – schulbuchmäßig. Und es passiert, dass wir uns für solche Überzeugungen die Köpfe einschlagen.
Im Reli- Unterricht gab ich den Jugendlichen der 7. Klasse 9 Bilder, die sie 8 Bitten des Vaterunser zuordnen sollten. Es war klar, ein Bild bleibt übrig und es gibt viele richtige Möglichkeiten der Zuordnung. Das hat die Kids überfordert.
Ich wollte als Lehrerin am Ende nicht lauter Häkchen dran machen, sondern die Jugendlichen hören. Warum verbindest du diesen Satz mit dem Bild?
Wer hört, bevor er seine Meinung zementiert, bleibt offen für den Zielpunkt: „der Herr, unser Gott, ist der Herr allein.“ Es ist ein Gott. Es ist ein Grund allen Lebens. Wer hört kann ihn entdecken – in den Weisungen der Tora (wie die Grammatiker), in den Stimmen der vielen Menschen, die uns tagtäglich begegnen.
Höre – es ist nicht nur eine Meinung richtig, aber es ist ein einziger Gott, den du finden kannst, wenn du hörst – und liebst:
- Du sollst den Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mir all deiner Kraft.
Gott ist die Liebe.
In allem, was mich zum Stolpern bringt, heißt es, mich mit dieser göttlichen Liebe zu verbinden.
Mit meinem Herzen. Mit meiner Seele. Mit meinem Verstand. Mit meiner Kraft.
Herz – Seele – Verstand – Kraft. Das beschreibt die ganze menschliche Existenz. Alles, was ich bin, darf sich mit der göttlichen Liebe verbinden.
Vielleicht sagen Sie, das ist nur was für „Profis“ – vielleicht für einen Pfarrer oder eher für eine Ordensschwester.
Ich bin zwar eine von dieser Sorte, aber doch kann ich Ihnen sagen: Das ist eine Idee für jedermann und jederfrau. Sich mit allem, was ich bin, nach Gottes Liebe ausstrecken.
Nehmen wir das Bild von einer Stolpernden. Jede Lebenssituation ist eine Herausforderung. Viel Pech, Schicksal. Und immer ein Problem. Wie ein Blatt im Wind.
Das Blatt im Wind sucht Halt. Antworten auf die vielen Probleme kriegt es nicht – aber Verbindung zum Baum, der es hält. Wurzeln die tragen.
Am Anfang des Gottesdienstes haben wir Worte aus Psalm eins gehört: Wer Gott und seine Wegweisungen sucht, ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen.
Gott lieben – heißt ihn suchen, in allem Stolpern sich immer wieder ausstrecken. Fragen und Ringen. Alles, was mich in meinem Leben umtreibt in Beziehung mit diesem Einen bringen.
Auf Instagram sah ich gestern ein kleines Video von einem Experiment.
Auf ein Stück Zellstoffpapier wurden Herzen gemalt. Ein großes unten, mit Filzstift rot ausgemalt. Kleine oben drüber. Dann wird das Stück Zellstoff ins Wasser gehalten. Jetzt verteilt sich die rote Farbe zu den anderen kleinen Herzen hin. Ich hab es nachgemacht. Es funktioniert.
Es ist ein nettes Symbolbild: Unser Leben in unseren Familien, in der Gesellschaft hat Kapilare, kleine Hohlräume / Bahnen, in denen sich das, was wir erleben und leben, weiterbewegt – sei es Gutes oder Schlechtes.
Die Liebe diffundiert. Sie dringt überall durch und findet zum Nächsten.
- Deinen Nächsten – er ist wie du
Liebe kann nicht allein bleiben. Deshalb das Gebot. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Allerdings gibt es hier ein Übersetzungsproblem. Die Hebräische Bibel wurde ins Griechische übersetzt. Von dort ins Deutsche. Zementiert hat sich Liebe deinen Nächsten wie du dich selbst liebst. Es gibt noch eine andere Übersetzungsmöglichkeit. Da heißt es dann: Liebe deinen Nächsten – er ist wie du.
Dein Nächster – wie du.
Der Tscheche Přemysl (Prschdemisl) Pitter hat das anschaulich gelebt. In Prag, das durch die Nazis besetzt wurde, leistete er Sozialarbeit, insbesondere für Kinder – und unterstützte jüdische Familien. Nach dem Krieg nahm er in verschiedenen Heimen Überlebende Kinder aus den Konzentrationslagern auf. Gleichzeitig gab es in Tschechien deutsche Kinder, die verloren waren. Die Tschechen taten ihnen, was die Deutschen den jüdischem Kindern angetan hatten. Sie setzen sie auf absolute Hungerrationen, für sie gab es keine Milch. Pitter konnte 400 elternlose deutsche Kinder in Obhut nehmen. Gemeinsam mit den jüdischen Überlebenden nahm er sie in seinen Heimen auf.
Liebe deinen Nächsten – er ist wie du. Im kommunistischen Tschechien wurde Pitter verfolgt. Er reiste 1951 aus und sein Engangement wurde dann so gut wie vergessen.
Vom Staat Israel wurde Prschdemisl Pitter schon 1964 geehrt – für ihn wurde ein Baum in der „Allee der Gerechten“ gepflanzt.
Liebe deinen Nächsten – er ist wie du. Diese Erkenntnis in jedem Leben übertragbar. Ich wage nicht, anderen zu sagen, wie sie diese Wegweisung „richtig“ umsetzen müssen. Auch wenn es naheliegt, weil ich die offensichtlicheren Beispiele immer bei den anderen finde, ist das Hochmut. Ich muss bei mir anfangen. Bei dem, was ich tun kann.
Schluss
Deswegen halte ich es in all meinem Stolpern – auch am Israelsonntag mit Augustin, der sagt: „Liebe – und tu was du willst!“
Ich kann das versuchen, weil Er – Gott – mich zuerst geliebt hat.
Dieser Ursegen des Lebens ist am Anfang der Tora Grundgelegt, indem Gott sagt: „Es werde.“ – „Ich möchte, dass du bist.“
Bleiben wir Hörende –
der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel.
Hörende -
der Wegweisungen zum Leben
Hörende -
des Schicksals unseres Nächsten – denn er ist wie du und ich.
Bleiben wir Hörende für Gottes Liebe.
Sie trägt im Straucheln, Fallen und Stolpern. Und bringt uns einer Welt, in der die Liebe Gottes regiert, ein Stück näher.
Amen.