21.09.2025 - "Gott begegnen auf der Schwelle" - Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis zu Gen 28,10-22 (Pfrin. Sr. Elise Stawenow)
Predigt zu Gen 28,10-22
am 14. Sonntag nach Trinitatus, den 21.09.2025 in der Friedenskirche Zedwitz und Hospitalkirche Hof
Pfrin. Sr. Elise Stawenow
Lasst uns in der Stille um den Segen Gottes bitten.
Liebe Gemeinde,
am vergangenen Dienstag sind kleine Erstklässler mit überschweren Zuckertüten über die Schwelle der Schule getreten. Für sie beginnt „der Ernst“ des Lebens. Die Einschulung ist eine wichtige Wegmarke im Leben. Können Sie sich noch erinnern?
Das Gefühl groß zu sein mit der Schultasche auf dem Rücken. Gleichzeitig unsicher - so viel Neues.
Ein Einschulungskind weiß vermutlich noch nicht, dass viele solcher Schwellenmomente kommen werden:
Der Schulabschluss, die Lehre. Der Führerschein. Das erste Kind. Die Rente.
Momente, wo man dazwischen steht: Das eine ist nicht mehr, das nächste kommt erst noch.
Das sind Momente, die die Menschheit mit Ritualen begeht.
Bei so einem Moment begleiten wir heute den Erzvater Jakob.
Was nicht mehr ist: Das Leben zu Hause im Elternhaus – von der Mutter bevorzugt, vom Bruder beargwöhnt und nun gehasst. Vom Vater gesegnet.
Weil er sich diesen Segen, der seinem Bruder zustand, erschlichen hat, soll er weg. Sein Bruder will sich rächen. Jakob soll sich nicht bei den Fremden eine Frau suchen und reist zur Verwandtschaft.
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.
Ich lese den Predigttext aus dem 1. Buch Mose im 28. Kapitel:
Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus.
Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der Herr mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.
Liebe Gemeinde, diese großartige Erzählung würde Stoff für 10 Predigten bieten. Ich wähle heute die Aspekte aus, die die die „Schwellenerfahrung“ thematisieren, die Jakob macht.
Wer fragt sich nicht, wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt: Wird es gelingen? Wird mein Weg gesegnet sein?
Das muss sich auch Jakob fragen. Denn der Segen, den er hatte, war geklaut.
Zum Schutz legt er einen Stein schützend vor sich – nein, der Stein ist kein Kopfkissen. So die aktuelle Forschung.
Schützen konnte er sich vielleicht vor wilden Tieren. Aber vor Gott nicht.
„Wie furchterregend ist diese Stätte hier!“ ist seine Reaktion beim Aufwachen. Erschüttert, entsetzt, erschrocken reagiert er auf die unerwartete Begegnung.
Jakob hatte vormals gedacht, er selbst könnte über dem Segen – dass es ihm gut geht im Leben- verfügen. Ihn an sich reißen.
Jetzt macht er die gegenteilige Entdeckung. Gott schenkt ihm Segen – mitten in einer total verstrickten Situation.
„Engel Gottes stiegen auf der Treppe auf und nieder.“ Dieses Bild veranlasst rabbinische Ausleger zu interpretieren: Dass Engel von der Erde, von Jakob her, aufsteigen, muss ja heißen, dass sie die ganze Zeit dabei waren.
Das heißt: Trotz allem weicht Gott nicht von seiner Seite.
Gott begleitet – auch dann, wenn es nicht spürbar ist.
Gott begleitet dich!
Das ist doch auch der Wunsch für alle, die diese Woche in die Schule kommen. Für alle Kinder, an die wir heute am Internationalen Kindertag denken.
Zur Schulanfangsfeier meiner Nichte aus Hamburg erstellten die Eltern ein Plakat. Von jedem Gast ein Schulanfangsfoto. Stolz stehen sie da – der Großvati auf dem schwarz-weiß-foto im Anzug. Die Patentante mit süß geflochtenen Zöpfen, die Mama hält eine kunstvoll gebastelte Zuckertüte mit Schmetterlingen in der Hand. Ja, das wünschen wir den Kindern – dass sie beflügelt diese Lebensphase durchgehen.
Wir halten Erinnerungen fest: Auf Fotos und Videos. In Zuckertüten, die dann auf Dachböden deponiert werden.
Jakob hält Erinnerungen fest. Foto funktioniert nicht. Er stellt Steine auf.
Diese Schwelle auf seinem Weg ist wichtig. Und heilig. Mit kostbarem Salböl markiert er diesen Ort für alle Zeiten.
„Wir sollten immer ein Fläschchen Salböl in der Tasche haben, sagte ein Pfarrer, der diesen Text auslegte, scherzhaft.
Warum? Damit wir uns jederzeit spürbar bewusst machen können, wo Orte oder Geschehnisse für uns kostbare, wegweisende, ja heilige Bedeutung haben.
Ich weiß nicht, ob es für mich der Schulanfang gewesen wäre. Die Zuckertüte wohl eher nicht.
Aber dieser Sonntag, der 14. nach Trinitatis schon. Mit ihm verbinde ich eine Schwellenerfahrung.
Es war genau die Woche, in der ich zum ersten Mal in meinem Leben in der Kapelle in der Christusbruderschaft zu Besuch war. Ein Jahr später war es wieder diese Woche. Der Psalm „Lobe den Herrn meine Seele“ hat sich fest in mein Herz eingeschrieben.
Heute würde ich sagen – ja, das ist ein heiliger Ort für mich geworden. Ein Ort, wo neues begonnen hat und ich Segen gespürt habe.
An welchen Schwellen im Leben haben Sie so etwas erlebt? Wo würden Sie hingehen, um den Ort oder das Geschehen mit Salböl zu würdigen, weil es ihnen kostbar geworden ist? Segen gebracht hat?
Den Ort zu würdigen heißt Dankbarkeit Raum zu geben.
Pfarrer Markus Pyka erzählt, wie es an seiner Haustür klingelt. Zwei Menschen stehen davor und überfallen den Pfarrer mit dem Satz: „Könnten Sie dieses Salz hier mal schnell segnen?“
Er ist überrascht. Gegenstände zu segnen gehört nicht zu seinen Selbstverständlichkeiten als evangelisch-reformierter Pfarrer. Er kommt ins Gespräch.
Es stellt sich heraus: Beide sind armenische Christen. Ein armenischer Priester ist nicht aufzutreiben, aber sie wollen ihren Dank zollen. Sie wurde nach einer schweren Erkrankung wieder gesund. Er ist so dankbar, dass es für den behinderten Sohn in Deutschland so viel Hilfe gibt. Dem Ritual nach werden sie nur mit dem gesegneten Salz ein Lamm kochen und es an bedürftige Menschen verschenken. Ihnen es unerlässlich, den Dank auszudrücken! Also segnet der Pfarrer das Salz.
Jakob würdigt den heiligen Ort mit Steinmänchen und Salböl. Er bringt seinen Dank ins Fließen, indem er die Abgabe des Zehnten seines Einkommens verspricht.
In Kürze sammeln wir wieder Gaben für das Erntedankfest, die dann der Diakonie oder der Tafel zur Verfügung gestellt werden. Das Geben ist ein Ausdruck des Dankes – das Gute kann nicht festgehalten werden, es will fließen – zu den anderen hin.
Gestern bin ich an Orten entlanggewandert, die ich gern mit Salböl markieren möchte: Schwellenorte die zeigen, dass aus Fluch Segen werden kann. Es ist der Grenzstreifen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Orte des Todes, die sich zu Orten neuen Lebensraumes verwandelt haben.
Es reicht aber nicht, die Orte als Gedenkorte zu markieren – sei es mit Salböl oder mit Erklärungen zu verschwundene Siedlungen oder großen Hinweisschildern „Hier war Deutschland bis zum 12. Dezember 1989 geteilt“
Das ist gut, bleibt aber statisch.
Dass der Dank ins Fließen kommt, geht nicht (nur) mit Geld oder Materialien. Das funktioniert vielleicht mit Haltungen und Lebensweisen. Wie können wir die Werte der Demokratie und Menschenwürde hochhalten – gegen alle Bewegungen, die Freiheit, Würde und Vielfalt klein halten wollen?
Es ist eine Form der Dankbarkeit, das groß zu machen und weiterzugeben, was uns getragen hat.
Wir wissen nicht, was kommt.
Jakob hatte schwere Zeiten vor sich. Er arbeitet sich bei seinem Onkel hoch. Bis er die Traumfrau bekommt, vergehen 14 Jahre. Später führen ihn die Boten in die harte Auseinandersetzung – mit seiner Lebensgeschichte. Und seinem Bruder. Das muss er klären. Die Versöhnung erringen.
Welche Schwellenorte wir auch immer gerade übertreten – sei es eine Lebensabschnitt, wie ein runder Geburtstag oder eine neue Arbeitsstelle oder ein historischer Einschnitt. Dass Drohnen über Polen und Flieger über Estland fliegen haben wir in der letzten Woche durchaus als ein Einschnitt wahrgenommen.
Den Herausforderungen müssen wir uns stellen. Die sind nicht weg.
Doch Dankbarkeit dürfen wir auch im Ungewissen fließen lassen: „Denn die Engel Gottes steigen auf und nieder.“
Das Johannesevangelium spricht dieses Wort über Jesus Christus, den Menschensohn aus (Joh 1,51) – in ihm ist Gottes Gegenwart mächtig unter uns. Deshalb bin ich so frei, die Geschichte von Jakob auf uns zu übertragen. Es gilt, wie Jesus sagt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).
In Jesus Christus berühren sich Himmel und Erde. Und niemand kann uns diese Verbindung nehmen. Amen.