26.10.2025 - "Erbarmen ist keine Lotterie" - Predigt zu Johannes 5,1-6 am 19. Sonntag nach Trinitatis (Pfarrer Stefan Fischer)
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus.
Liebe Gemeinde!
samstagabends in deutschen Wohnzimmern: Die Ziehung der Lottozahlen.
Fünf vor 8: Regelmäßig verfolgen Millionen von Menschen in Deutschland die Bekanntgabe der Lottozahlen; früher konnte man die Ziehung mit einer großen durchsichtigen kugelförmigen Mischmaschine sogar live verfolgen.
Große Hoffnung auf satte Gewinne für einigermaßen wenig Geld.
Was könnte man mit dem Geld nicht alles anfangen?
Lebensträume erfüllen: Eine Weltreise, das Darlehen fürs Haus abzahlen, endlich mal a gscheits Auto...,
natürlich könnte man mit dem vielen Geld auch viel Gutes tun.
Doch schnell hat sich die freudige Anspannung wieder gelöst: „Wieder nix“ – wie so oft.
Das nächste Mal vielleicht, einmal kommt jeder dran; es trifft ja mehr, als man denkt.
Aber das nächste Mal wird's wahrscheinlich genauso sein.
Bis auf wenige Ausnahmen, die vielleicht sogar die Jackpots knacken.
Und - es gibt ja auch noch das Mittwochslotto.
Aber die Chance ist einfach zu gering, weniger als 1 zu 13 Millionen.
Die Wahrscheinlichkeit eine Niete zu tippen liegt bei 98%, also gibt es nur eine zweiprozentige Chance überhaupt etwas zu gewinnen.
Aber natürlich geht’s trotzdem:
Wer sicher gehen will, einen Sechser mit Superzahl zu bekommen müsste hunderte Mio. Euro investieren, denn so viel kosten alle Tippscheine mit allen Zahlenkombinationen zusammen.
Ist doch eigentlich eine ziemliche Nietenshow, diese Ziehung der Lottozahlen.
Und doch wird weitergespielt, Woche für Woche.
Wie groß muss die Hoffnung sein, dass es immer wieder versucht wird.
Die Hoffnung stirbt zuletzt – sagt der Volksmund.
Damit wird ihr eine große Bedeutung zugesprochen.
Und es stimmt ja auch: Ist es nicht eigentlich die Hoffnung, die wie ein Motor unser Leben treibt, die uns auch in aussichtslosen Lagen durchhalten lässt?
Da ist die Hoffnung des Einsamen, einmal einen Menschen zu finden, der sich um ihn kümmert.
Da ist die Hoffnung des Kranken, wieder auf die Beine zu kommen und gesund zu werden.
Da ist die Hoffnung letztlich von uns allen, auf Anerkennung, Achtung und Liebe unserer Mitmenschen.
Auch unser heutiges Predigtwort handelt von Hoffnung und ihrer Erfüllung.
Wir hören es im Johannesevangelium im 5. Kapitel:
Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Bethesda.
Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank.
Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Es war aber an dem Tag Sabbat.
Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.
Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war.
Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm:
Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.
Da liegen also unzählige Kranke in den fünf allen am Teich Bethesda.
Alle warten auf das Wunder, das von oben kommt.
Denn ein Engel ist es, der von Zeit zu Zeit die Wasser bewegt.
Übrigens: Bethesda heißt ‚Ort des Erbarmens’.
Aber trifft dieser Name zu?
Wir können uns ausmalen, was geschieht, wenn die Wellen schlagen: Da ist erst einmal von Erbarmen keine Spur.
Da beginnt vielmehr das große Rennen zu den Fluten des Teichs.
Die egoistische Jagd um die eigene Gesundung beginnt.
Jeder ist sich selbst der Nächste.
Alles was laufen kann stürzt zum Wasser.
Gehbehinderte und Lahme schaffen's nicht.
Andere sind schneller.
Einer unter ihnen ist gelähmt und wartet schon 38 Jahre.
Seine Chancen sind noch geringer, als im Lotto sechs Richtige zu bekommen.
Und trotzdem: auch nach 38 Jahren hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Vielleicht wird das Wunder einmal wahr.
Vielleicht bringt ihn einmal einer zum Wasser, im rechten Augenblick.
Vielleicht erfährt er ja doch einmal, was der Name des Ortes verheißt: Erbarmen!
Allein allerdings ist er hilflos.
Es muss ihn an anderer zum Wasser tragen.
Nur ein anderer kann das Wunder für ihn möglich machen. Darauf hofft er seit 38 Jahren.
Lässt sich das Bild von den Kranken am Teich Bethesda nicht gut in unsere Zeit übertragen?
Sind wir Menschen dieser Tage nicht auch wie eine große Menge von Hoffenden?
Warten wir nicht auf unsere Weise auf das Wunder, das uns und die Welt zurechtrichtet, uns hilft und heilt; auf das Wunder des Friedens?
Die Hoffnung auf das große Geld, wie sie sich beim Lottospiel äußert, ist nur ein Beispiel dafür.
Das Problem ist nur, wie damals am Teich:
Wunder scheint es eher selten zu geben.
Und wenn etwas Wunderbares eintreffen sollte, will jeder erstmal selbst was davon haben.
Der Egoismus ist die große Triebkraft, und andere sind schneller, stärker, weil rücksichtsloser.
Wir leben in einer Welt, in der viel zu oft die Schwächsten die Dummen sind.
Es müsste einmal einer nicht nur an sich denken; es müsste einmal einer sehen, dass andere noch schlechter dran sind.
Aber wer sollte das tun?
Aber wer in der großen Masse bringt es fertig gegen den Strom zu drängen, einmal die eigenen Hoffnungen und Wünsche hintanzustellen und sich für den anderen einzusetzen, der Hilfe braucht?
Da vergehen leicht 38 Jahre, bis einer bemerkt, da liegt einer, der mich nötig hat, der’s wirklich schon lange braucht!
Ich finde: Diese Geschichte, die da am Teich Bethesda spielt ist zeitlos ungerecht.
Doch gibt es damals wie heute – Gott sei Dank – immer wieder ein Happy End.
Es geschieht ein Wunder, und dieses Wunder trifft genau die Richtigen, die es wirklich verdient haben.
Wenn wir aber genauer hinhören, bemerken wir noch etwas an ihr:
Eigentlich steht gar nicht das Wunder selbst, also die rätselhafte Bewegung des Wassers durch den Engel, im Mittelpunkt.
Natürlich ist es wunderbar, dass Gott selbst immer wieder in die Weltgeschichte und auch in unseren Alltag gegen alle Naturgesetze und wider Erwarten eingreift.
Das ist für mich ein großer Trost und eben eine Hoffnung, die viel weiter reicht als nur bis zum nächsten Problem.
Ja, staunen wir wirklich über dieses Wunder und loben Gott dafür aus vollem Herzen!
Doch wir sollen nicht nur schauen und hören, wir sollen auch zum Nachdenken kommen.
Worüber? Über die Möglichkeiten, die Gott uns als seiner Gemeinde gibt, selbst zu wunderbaren Hoffnungsträgern zu werden.
Schauen wir deshalb noch mal auf den Gelähmten am Teich Bethesda:
In den 38 Jahren, die er in den Hallen gelegen hat, wird er oft Zeuge des Wasserwunders gewesen sein.
Sicher hat er viele Heilungen gesehen.
Er weiß um seine fast völlig aussichtslose Lage und doch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben.
Er wartet auf das größere Wunder, als das sich das Wasser bewegt!
All die Jahre hofft er auf einen Menschen, der sich ihm zuwendet, der sich erbarmt und ihm hilft.
Und solche Wunder der Mitmenschlichkeit sind selten, seltener noch als die Wunder von oben, seltener als dass ein Engel vom Himmel steigt.
Ich glaube, das will die Geschichte uns sagen.
Doch er kommt, der andere, der Mitmensch der hilft.
Jesus sieht den Lahmen und erbarmt sich seiner.
Ohne Wunder von oben, ohne Engel und heilkräftiges Wasser.
Jesus heilt ihn – natürlich auf wunderbare Weise, doch für den Gelähmten ist es endlich der Mitmensch, der sich seiner erbarmt, der endlich nach so langer Zeit Rücksicht nimmt und Hilfe anbietet.
Das ist der springende Punkt.
Der Nächste, der Bruder, so ist Jesus dem Gelähmten erschienen; so bringt er ihm die Heilung, die Erfüllung der Hoffnung.
Darauf will die Geschichte hinaus.
Und deshalb steht das Heilungswunder selbst gar nicht im Mittelpunkt, sondern: Jesus erfüllt die Hoffnung, die unendlich große Hoffnung des Gelähmten.
Deshalb sagt diese Wundererzählung uns heute zwei wichtige Dinge.
Das Erste: Auch wir können heilen.
Meist andere Gebrechen zwar, aber auf die gleiche Weise:
Der Einsame braucht einen Menschen, der Zeit hat, der die eigenen Sorgen einmal vergessen kann und sich vorbehaltlos zur Verfügung stellt.
Wer von Ängsten umgetrieben wird, hofft auf Trost, auf einen Menschen, der ihm Mut macht.
Der Ausgestoßene sucht einen, der ihn annimmt, der in Not Geratene einen, der ihm zu Recht hilft.
Es muss kein Wunder von oben sein, es braucht nicht unbedingt einen Engel - wir selbst können und dürfen helfen.
Hierin will uns die Geschichte von der Heilung am Teich Bethesda Jesus zum Vorbild machen.
Sie fragt nicht nach dem Wunder selbst: Wie war es möglich, dass Blinde sehen, Lahme wieder gehen konnten? Wie konnte die Heilung geschehen?
Was veränderte sich im Wasser, wenn der Engel herabstieg? All diese Fragen sind zwar interessant, doch sie lenken nur vom Wesentlichen ab: nämlich, dass wir helfen.
Und ein Zweites.
Halten wir wie der Gelähmte an unserer Hoffnung fest.
Eine feste Hoffnung wächst im Vertrauen auf Jesus.
Gerade, wenn wir das Gefühl haben, die Zeit dehnt sich, wird unerträglich lang und wir verlieren bald die Geduld.
Halten wir an ihm fest.
Jesus handelt – entweder selbst von oben durch ein himmlisches Wunder oder er sendet uns Menschen in seinem Namen.
Menschen, die den Blick für die Not ihres Mitmenschen haben.
Ich komme zum Schluss:
Wir Christinnen und Christen haben dieser Welt im Kleinen und im Großen so viel zu geben: Hoffnung und tätige Nächstenliebe.
Dazu rüstet uns Jesus aus.
Wir sind Jesu Hoffnungsträger!
Hoffnungsträger für diese Welt.
Wir können durch Jesu Vollmacht jeden Ort dieser Welt „Bethesda“ werden lassen:
den „Ort des Erbarmens“, der Ort der erfüllten Hoffnung.
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.