02.11.2025 - Mit dem Herzen hören - Predigt zu Dtn. 6,4-9 - Reformationstag - (Pfrin. Sr. Elise Stawenow)

Liebe Gemeinde!

Alles beginnt mit dem Hören.
Auch für Martin Luther.
Luther prägt protestantische Identität, indem er im Römerbrief übersetzt: „Der Glaube kommt aus der Predigt.“ Seitdem sind die Evangelischen berühmt für ausgedehnte Predigten und viele Worte. Doch in Röm 10 steht wörtlich: „Der Glaube kommt aus dem Hören.“

Alles beginnt mit dem Hören.
Auch der Glaube an den einen Gott.

Der Predigttext für den Gedenktag der Reformation steht im 5. Buch Mose im 6. Kapitel.

Hören wir den Text in der Lutherübersetzung.
4Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. 5Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 6Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Frei übertragen nach Saint Exupéry würde ich zusammenfassen.
Nur wer mit dem Herzen hört, hört Gott.

Die Zeilen aus dem 5. Buch Mose sind das Herzstück des jüdischen Glaubens. Damit beginnt der Tag. Damit endet ein Tag. Diese Zeilen prägen jüdische Identität und Lebensgeschichten. Sie sind das erste Gebet, das ein jüdisches Kind lernt – by heart – auswendig. Und das letzte Gebet der Sterbenden.
Märtyrer haben es gesprochen. In Gaskammern hallte es. Als Hilferuf und Klage. Als Kraftwort und Bekenntnis.

Nur wer mit dem Herzen hört, hört Gott.

Mein Herz hört Geschichte. Schwere Geschichte, die zur Gegenwart gehört. Mein Herz fühlt sich verpflichtet. Es trägt eine Verantwortung, gegen jegliche Formen von Antisemitismus einzustehen.
Schema Jisrael adonai elohenu adonai ächad.
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.

Mein Herz hört eine Liebeserklärung. Da ist einer – Gott. Einzig. Herrlich. Ganz.
In jeder Tora, in jeder hebräischen Bibel, ist der letzte Buchstabe des Schema dick gedruckt. Und der letzte Buchstabe des Satzes. Beide Buchstaben ergeben zusammen ein Wort. Ed – das ist übersetzt der Zeuge, die Zeugin.

Dieser Gott -einzig, herrlich, ganz - sucht Zeuginnnen und Zeugen!
Wie wird man das? Das erzählt der Text.

Ich lese den kurzen Text noch einmal in einer anderen Übersetzung:

Höre Israel, Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott.
So liebe denn Adonaj, Gott für dich, mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug, mit aller Kraft.
Die Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir am Herzen liegen.

Im Chorgestühl des Augustinerklosters in Erfurt ist eine Delle, die man heute noch besichtigen kann. Hier haben Generationen mit einem Stab den Takt angegeben. Sie klopften auf den Boden zum unablässigen Wiederholen der Psalmworte. Unter den Betenden der junge Mönch Martin Luther. Die Worte trägt er auswendig. Unterm Herzen. Mit jedem Atemzug. Mit aller Kraft – mit viel Willen. Doch bis er sie mit dem Herzen hört, vergeht noch viel Zeit. Und Ringen.

Nur wer mit dem Herzen hört, hört Gott.
Das ist Gnade. Dafür ist Martin Luther Zeuge. Seine Erkenntnis der unverfügbaren Gnade Gottes, die jedem gilt, öffnete die Türen zur Liebe Gottes.
Ziemlich weiter Raum - für manche wohl zu weit?
Eindrücklich ist mir in Erinnerung die kleine Kapelle in der Marktkirche in Halle. Dort ist die Totenmaske Luthers gegen Eintritt zu besichtigen. Sie ist historisch: bei der Rückführung des toten Luthers wurde ihm dort die Maske abgenommen. Und sein Konterfei als Emblem an der Empore angebracht.
Verfügbar – begreifbar wird dieser Zeuge gemacht, ganz im Kontrast zu dem, was er bezeugen wollte: Die Unverfügbarkeit der Liebe Gottes, die nicht an einem Menschen hängt.
In einer Welt, die sich mit und in der Reformationszeit urplötzlich rasant verändert hat, suchten Menschen Halt in dem, was sie sehen und begreifen können.
Schnell haben sich Marker des Protestantismus ausgebildet: Der gelehrte Mann im schwarzen Talar auf der Kanzel, der freie Bürger, der Familie gründet und seinen Halt nicht in weltfremden Klöstern sucht.

Nur wer mit dem Herzen hört, hört Gott.
Der Predigttext macht eine Haltung groß. Eine Herzenshaltung.
Den Verstand, aber auch die Lebenskraft mit der großen Urkraft – mit Gott – verbinden.
In jedem Atemzug. In Gedanken. In Worten. In Taten.

Ich persönlich weiß nicht sicher, ob ich das kann. Mit all meiner Kraft. Von ganzem Herzen?
Es gab einen Moment im Leben, da war ich beseelt. Ich wusste, das will ich, mit all meiner Kraft, von ganzem Herzen Christus folgen. Ich entschied mich, dass GANZ hieß, Ordensschwester zu werden. Gott lieben von ganzem Herzen, war meine Devise. Ich war jung, Anfang 20 und ich krempelte die Ärmel hoch – alles Gute tun und mich dazu noch in Gott versenken war mein Ziel.
Bis mir – ich war schon längere Zeit im Kloster -  ein Wort ins Herz fiel: „Christus hat uns zuerst geliebt.“ (1Joh 4,19) Das war mein „Turmerlebnis“. Ich kam damit auf den Boden der Tatsachen. Ich kann nichts geben, ohne mir einzugestehen, dass ich selbst der Liebe bedürftig bin. Von ganzem Herzen hieß dann, mein Herz auszuschütten. Die Verletzungen und Dellen, die ich mein Leben lang versteckt hatte, aufzudecken. Mit Liebe bedecken zu lassen. Das ging nicht von allein. Da brauchte ich Begleitung und viel Zeit.
Seitdem übe ich von ganzem Herzen: Empfänglich werden für die Liebe Gottes. Mir zugestehen, dass ich sie brauche. Nicht selbstgerecht ohne kann.
Das ist ein Prozess, mit dem ich nie fertig werde. Der mein Herz aber offen hält – auch für die Bedürftigkeit anderer Menschen.

Inzwischen stehe ich als evangelische Ordensschwester im schwarzen Talar auf der Kanzel.
Das markiert, dass Kirche nicht statisch ist.
Über 400 Jahrhunderte lang war Ordensleben in der evangelischen Kirche nicht denkbar.
Noch länger – in Bayern zumindest – hatten Frauen auf der Kanzel nichts verloren. Inzwischen gibt es seit fast 80 Jahren evangelische Communitäten und 50 Jahre die Frauenordination in Bayern.
Kirche verwandelt sich. Zum Glück.
Aber die Haltung, die es dazu braucht, bleibt dieselbe.

Nur wer mit dem Herzen hört, hört Gott.
Ich meine, wir brauchen eine neue Tugend des Hörens. Lauschen auf die Stimme Gottes. Auf sein Liebeswort. In der Bibel. Unter den Menschen. In der Welt. Da können die Generationen vor uns Vorbild sein.
Die Formen sind vielfältig: „So schärfe sie deinen Kindern ein und sprich davon, ob du nun zu Hause unterwegs bist, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.“
Meine Eltern haben sie uns als Segen auf die Stirn geschrieben, bevor wir die Haustür zur Schule hinaus gegangen sind. Als ichs mal vergessen hatte, als Kind, lief ich zurück. Ohne Segenswort wollte ich nicht sein. Heute setze ich selbst ein Zeichen, indem ich mich bekreuzige – ganz nach Luther, der es empfiehlt in seinem Morgen- und Abendsegen.
In der Schule verbinden wir die Gebetsworte mit Bewegungen. Der ganze Körper merkt sie sich.

Es gibt noch dieses andere Hören mit dem Herzen. Eine Erfahrung, die ich kürzlich machte:
Ich bin auf dem Fahrrad unterwegs in Hof von einem Termin zum andern. Kurz halte ich inne, um die Aussicht über die Saale im Herbstlicht zu genießen. Da kommt ein Mann die Straße lang. Er schaut mich an. Ich überlege, hab ich jetzt Zeit zum Reden? Da hält er mir seine Plätzchentüte hin und bietet mir einen Keks an. Ich nehme ihn an. Er erzählt. Am Ende hab ich drei Kekse geschenkt bekommen. Er fragt mich, ob ich Christin bin. Er selbst ist Jeside und wurde im Irak verfolgt. Er ist allein hier. Vielleicht bekommt er morgen seine Kündigung auf der Arbeit. Er sorgt sich um seine Familie. Eine Schwester hat das Down-Syndrom, er schickt Geld. Wir verabschieden uns. cCh bin berührt. Was ist passiert? Da haben sich offene Herzen verbunden. Über die Grenzen des Bekenntnisses hinweg. Oder: Weil das Bekenntnis so sichtbar war?

Wer mit dem Herzen hört, hört Gott.
Gott ist Einer. Gott ist Einzig. Die Liebe ohne Grenzen.
In einer Zeit, in der sich die Welt rasant verändert, suchen Menschen Halt. Doch wir machen uns vor, wenn wir meinen, diesen durch Gesetze und Grenzen zu finden.
Kirche kann Leuchtturm der Liebe sein – mit Menschen, die mit dem Herzen hören.

Kirche bleibt ihrem Erbe treu, wenn sie sich verwandelt – über Mitgliedschaft, Gebäude- und Strukturen hinaus.
Gerade wenn der Boden zu wanken beginnt, weil das, worüber Kirche immer verfügt hat, entschwindet, braucht es die Rückbesinnung auf das unverfügbare und unverrückbare Gut:
Gott ist einzig – Liebe ohne Grenzen.
Lasst uns als Zeuginnen und Zeugen werden und Kirche zum Liebesraum werden lassen. Tag für Tag üben: Mit dem Herzen zu hören. Und die Zeichen der Liebe nicht zu scheuen. Amen.