30.11.2025 - "Es ist nicht zu spät" - Predigt zu Römer 13,8-12 am 1. Advent (Pfarrer Stefan Fischer)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Wir hören das Predigtwort aus dem Römerbrief des Paulus im 13. Kapitel, daraus die Verse 8-14:
Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt;
denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.
Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.
So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.
So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.


 

 

Liebe Gemeinde,
wie spät ist es?

 

Ich wache auf, mitten in der Nacht, und denke: Hilfe, wo bin ich?

Ich versuche eine Weile die Dunkelheit des Raumes zu durchdringen und mich zu orientieren.
Dann endlich stelle ich erleichtert fest: Gott sei Dank, mein Bett, ich bin Zuhause.

Wie spät ist es eigentlich?

 

„Wie spät“ - nicht etwa: wie früh, obwohl es vielleicht zwei Uhr ist.

Verrät dieses Wörtchen „spät“ vielleicht etwas über uns?

Über unser Zeitgefühl?

Etwa auch darüber, wie ich die Realität grundsätzlich betrachte?

Blicke ich auf mein Leben, als wäre vieles zu spät.

Als bliebe nicht mehr viel Zeit.

Wer dreißig ist, klagt: auweh, ich bin schon dreißig!

Was soll daraus noch werden?

Und wer sechzig ist - wäre vielleicht gerne noch mal dreißig: „was war ich da jung“.

 

Um einem Thema große Bedeutung zu verleihen, sagt man oft: „Es ist fünf vor Zwölf“.

Die Lage ist brenzlig, komm in die Puschen, denn wenn’s 12 schlägt, ist es zu spät dafür.

Brauchen wir das wirklich?

Dieses Bewusstsein, dass nur noch ganz wenig Zeit bleibt?

Brauchen wir das, damit wir in letzter Sekunde wie in einem Kino-Blockbuster in die Gänge zu kommen um die Katastrophe abzuwenden?

 

Das Gefühl der späten Stunde.

Dieses Gefühl hat auch mit unserer Lebenserfahrung zu tun.
Wir erleben je älter wir werden, dass die Zeit immer schneller zu vergehen scheint – obwohl das objektiv betrachtet nicht stimmt: Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig misst unsere Zeit mit einer unvorstellbaren Genauigkeit; die Abweichung beträgt 1 Sekunde in 300 Millionen Jahren.
Und trotzdem fühlen wir anders: Wir leben in der Zeit, die wir nicht aufhalten können; der Strom der Zeit reißt uns mit.
Wir sehen, wie schnell es zu Ende gehen kann.
Mit dem Frieden. Mit dem Klima.

Und mit unseren ganz persönlichen Plänen, all unserem Dichten und Trachten, mit dem Dasein auf Erden.

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ ist ein Lied, das diese Erfahrungen versammelt.

„Hin geht die Zeit, her kommt der Tod“.

Das ist und bleibt eine Grunderfahrung unseres Lebens.

 

Dennoch will uns Paulus ermutigen, auch mal die Blickrichtung zu wechseln.

Mit seinen leidenschaftlichen, das Leben und das Licht liebenden Worten will er uns im wahrsten Sinne ermuntern, anders zu fragen.

Nicht „wie spät“, sondern: „wie früh!“

Für Paulus ist es nicht „fünf vor zwölf“, sondern, sagen wir mal, sechs Uhr oder vielleicht noch etwas früher.

Es ist noch dunkel.

Aber bald kommt ein Lichtschimmer am Horizont.

Der verspricht uns, dass der Morgen bald kommt.

Ein Morgen von klarstem und reinstem Licht.

Aufstehen!

Es ist eigentlich jammerschade, auch nur einen solchen Morgen zu verpassen, auch für bekennende Langschläfer.

Es entgeht einem viel.

Eine stille Welt, ohne Autos.

Eine frische Luft, wie man sie den ganzen Tag nicht mehr riechen wird.

Die Sonne, die durch den Frühnebel bricht.

Alles so ungestört und wie neu geschaffen.

 

Paulus meint noch viel mehr.

Sein Morgen ist nicht einfach nur schön und ergreifend.

Es ist der Morgen schlechthin, der die ganze Welt verändert, sie in einem neuem Licht strahlen lässt.

Der Morgen, den Gott uns schenkt.

Es ist der Morgen, an dem heil wird, was zerbrochenen Herzens war.

An dem klar wird, was dunkel und trübe war.

An dem frei wird, was in Ketten gebunden lag.

An dem sich verwundert die Augen reiben wird, was auf dem Boden der harten Tatsachen ranzig und grau geworden war.

 

Es ist Advent, und wir hören: Christus kommt.

Mein Heil, meine Klarheit, meine Erlösung, mein großes Staunen.

So soll es auch in diesem Jahr unsere Freude sein, unsere Hoffnung und Zuversicht.

 

Wie früh ist es?

Es ist ganz früh am Morgen.

Es ist noch dunkel draußen und vielleicht auch in mir drin.

Aber das kann sich ändern: Christus kommt zu mir.

Nicht mehr lange, dann tagt es.

 

Ich schließe noch einmal kurz die Augen und bin beruhigt und dankbar.

Dann heißt es aufstehen.

Was für ein Geschenk, was für eine Gnade: aufstehen zu können.

Sich entscheiden zu dürfen!
Nicht mit dem „linken Fuß“, sondern mit dem rechten.

Das soll unser Vorsatz sein für den großen Tag, der kommt.

Was uns in der Nacht bedrückt hat und gequält, wir sollen, wir dürfen es hinter uns lassen.

Die „Werke der Finsternis“ ablegen: unsere Schuld, aber auch unsere Sorgen und Ängste.

Die ganze Trägheit, Mutlosigkeit, Verzagtheit.

All das, was uns glauben macht, es wäre schon spät und nicht früh.

Unser Dahinleben, als behielte die Nacht die Oberhand.

Als käme kein Morgen, schon gar nicht der alles verwandelnde große Morgen Gottes, dem noch manche Nacht folgen wird, aber keine Finsternis mehr.

Wir strecken uns und dehnen uns.

Auf mich wartet der Morgen, der neue Tag!

 

Dazu gehört dann auch das Frisch machen!

Waschen oder Duschen, Zähneputzen, frische Kleidung.

Wir legen die Spuren der Nacht ab und kleiden uns für den Tag.

So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts, sagt Paulus.
Was Paulus als Beispiele eines ungereinigten, nach Schlaf und Nacht riechenden Lebens meint, ist bezeichnend, aber auch austauschbar.

Die Werke der Finsternis, das sind unsere Einstellungen und Verhaltensweisen, die uns krank machen – oder bildlich gesprochen: die uns in der Finsternis halten.
Es geht dabei zum einen um zerstörende Haltungen wie Völlerei, Unzucht, Streitsucht, Neid und Eifersucht.

Davor – sagt Paulus – wollen uns die Zehn Gebot schützen, mich persönlich und unser Zusammenleben.

Paulus warnt davor den anderen Menschen nicht mehr als Nächsten, als Mitmenschen anzusehen.
Er warnt vor dem Verlust von Respekt und Würde, mit denen ich meinen Mitmenschen Wertschätzung entgegenbringe.
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses – Die Werke der Finsternis stürzen uns ins Chaos und in den Untergang.

Die Nächstenliebe schützt uns vor dem zerstörenden „Alles für mich“ und „Jeder gegen Jeden“.
Paulus erhebt zu Recht den moralischen Zeigefinger, aber nicht aus Besserwisserei oder Rechthaberei.

Sondern weil wir als Geschöpfe Gottes einfach zu kostbar sind.

Aufs Licht hin hat uns Gott geschaffen, nicht für die Nacht.

Es wäre so schade, wenn wir das einfach so aus purer Selbstliebe und Rücksichtslosigkeit verspielen würden.

 

Im Anschluss an unseren Predigtabschnitt verwendet

Paulus ein sehr eindrückliches Bild: Zieht an den Herrn Jesus Christus.

Damit ist unsere Grundhaltung gemeint, die wir uns immer wieder anlegen müssen.
Jesus Christus ist das denkbar schönste Kleid, der kostbarste Anzug.

Er ist aber eben gerade nicht nur ein Sonntagsgewand, sondern kleidet uns auch und besonders im harten und rauen Alltag.

Wir dürfen, sagt Paulus, gleichsam in ihn hineinschlüpfen, dass er uns Schutz und Wärme gibt.

Und heißt es nicht zu Recht, „Kleider machen Leute“?

Wer mit Christus gekleidet ist, kommt in einem Gewand daher, das unüberbietbar schlicht und strahlend zugleich ist.

Wenn ich es trage, dann zeige ich Würde und Zufriedenheit, Dankbarkeit und Liebe, die Gott mir geschenkt hat.

Deshalb sagt Paulus: Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Alles, was uns Menschen von Gott gesagt worden ist, sein Gesetz, seine Gebote, braucht dort eigentlich keine Buchstaben mehr,
wo wir Liebe üben, wo wir einander ernst nehmen,
wo wir im Mitmenschen das geliebte Geschöpf Gottes sehen, der auch für das Licht und den Morgen geschaffen wurde, unersetzlich und kostbar.

Im Kleid des Herrn Jesus Christus gehen uns die Augen auf dafür.

Wir sind verwandelt, wir sind geliebt.
Aus dunkel wird hell.

Aus Nacht bald Morgen.

Es ist nicht zu spät! Amen.

 

Der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.